Kapitel 6 - Das Sommercamp Gegen Mittag des dritten Tages kam der Müller zu der Wassermühle zurück. Der Runenmeister aus Feuchtau befand sich nicht mehr in seiner Begleitung, denn jener hatte sich in Murrtal für einen anderen, kürzeren Rückweg entschieden. Dafür brachte Friedenreich Nachrichten mit, welche die ganze Familie überraschten. An der Ibensul sollte demnächst ein Camp für die Jugend des Alten Volkes stattfinden. Sowohl Ferun und Ortrun als auch Teutebrand würden daran teilzunehmen und in kaum zwei Wochen müssten sie zu ihrer Reise dorthin aufbrechen. Angesichts des sich abzeichneten Krieges sollte die Jugend des Alten Volkes den Sommer an dem mytischen Ritualplatz verbringen, zumindest war das derart von der Versammlung in Murrtal beschlossen worden. Der Müller und Kunrada würden in dieser Zeit die Mühle sowie den Hof alleine versorgen müssen. Doch die Arbeit mit der Mühle war im Sommer meist eh nicht sehr viel, mit etwas Anstrengung und einigen Einschränkungen würden die beiden dies gewiss schaffen. In den folgenden Tagen ist Friedenreich selten an der Wassermühle anzutreffen, stattdessen reist er viel in Ubil umher. Er unterrichtet die Familien aus Fentovia und den umliegend Dörfern über das geheimen Treffen, von welchem er gerade zurückgekehrt ist. Darüber hinaus sorgt er dafür, dass sie von dem geplanten Sommercamp erfahren. Ein weiteres Mal übernimmt Teutebrand in Abwesenheit des Müllers den Dienst an der Wassermühle, jedoch nicht nur deshalb vergeht die nächste Woche viel zu schnell für den Jungen. Wegen des bevorstehenden, gemeinsamen Sommers im Camp der Jugend des Alten Volkes gibt es viel zu bereden, daher trifft er die Schwestern erneut ab und an. Zwar würden wahrscheinlich weitere Jugendliche aus Ubil an die Ibensul reisen, dessen ungeachtet steht bald fest, dass Ferun, Ortrun und Teutebrand alleine auf ihre Wanderung gehen würden. Brungard hatte den Wunsch geäußert, ihren Sohn vor dem großen Treffen der Jugend nochmals zu sehen, daher würden die drei zuerst einmal nach Murrtal wandern. Kunrada hatte sich zwischenzeitlich an die Rodung eines größeren Teiles ihrer Gemüsebeete gemacht, schließlich galt es die Reise gründlich vorzubereiten. Zum einen konnte es ihrer Meinung nach gar nicht genug an Verpflegung für unterwegs sein und obendrein musste die unabsehbare Dauer ihres Aufenthalts im Camp bedacht werden. Zum anderen stellte dies eine gute Gelegenheit dar, bei welcher sie sich für die Salbe für ihr schmerzenden Füße erkenntlich zeigen konnte. Im zugigen Murrtal war frisches Gemüse bestimmt stets gefragt und Brungard würde die Früchte ihrer gärtnerischen Bemühungen zweifellos zu schätzen wissen. Die Vorbereitungen für die Reise waren damit allerdings längst nicht abgeschlossen, gleichermaßen würde die drei einiges an Ausrüstung für das Leben im Camp mitnehmen müssen. Ziegenhäute für die Zelte müssen zusammengesucht werden, des Weiteren wurde Werkzeug benötigt, um die provisorischen Unterkünfte errichten zu können. Daneben sind Schafsfelle und gewebte Decken für das Nachtlager vonnöten und auch die Dinge des täglichen Bedarfes mussten berücksichtigt werden. Teller, Messer und Löffel, Krüge und Töpfe sowie noch einiges mehr sollte eingepackt werden. Sie würden die meiste Zeit nahezu ganz auf sich alleine gestellt sein und alle diese Dinge sicherlich gebrauchen können. Gleichfalls sind die Schwestern endlich mit dem Schneidern ihrer neuen Kleider fertig geworden, dies ist ein weiterer mindestens so wichtiger Grund, wieso der Müllergeselle die beiden nun wieder öfters sieht. Ortrun hatte sich ein Kleid aus schimmerndem, roten Samt genäht. Es besitzt einen großzügig geschnittenen Brustausschnitt und einen anderen, mindestens so tiefen Ausschnitt am Rücken. Die Schulterparteien werden deshalb vorne und hinten mit einer Verschnürung zusammengehalten. An den Schultern sind die Ärmel dagegen in viele Falten gerafft, an den Unterarmen wiederum mit Schnüren eng gebunden. Der im selben Farbton gehaltene Rock hat gleichfalls zahlreiche Falten und reicht bis knapp über die Knie. Zu den Schuhen für die Wanderung trägt Ortrun schwarze Stulpen, was gewiss im hohen Gras einer Wiese oder in unwegsamen Gebüschen tief im Wald nützlich sein wird. Das Kleid wird an den Hüften von einem breiten Ledergürtel umschlungen. Ein Beutel hängt daran, um einige Kleinigkeiten darin aufbewahren zu können. Hingegen hatte Ferun offensichtlich mehr das Praktische bedacht. Sie trägt ein langes Kleid aus hellem Leinen mit weiten Ärmeln, der Rock reicht bei ihr fast bis zum Boden. Brust und Rücken sind zusätzlich von einem rechteckigen, schlichten, dunkelblauen Überwurf mit ebenso rechteckigem Kopfausschnitt bedeckt. Ein doppelter, umlaufender, schwarzer Streifen dicht an den Rändern ist die einzige Verzierung dieser Arbeitsschürze. Drei zopfartig geflochtene Lederriemen dienen der kleinen Schwester als Gürtel und gleichzeitig als Halterung für einen etwas größeren Beutel. Beide Mädchen tragen über den Kleidern außerdem ein dunkles Cape mit Kapuze. Ortrun ihr Cape reicht gerade bis zur Hüfte, während Ferun ihres bis fast zu den Knien geht. Von ihrer Mutter hat Ferun für die Reise die silberne Spange erhalten, die Friedenreich auf dem Markt erstanden hatte. Sie hält nun ihren Umhang zusammen, wohingegen das Cape der großen Schwester lediglich mit einer etwas stärkeren Kordel umgebunden wird. Teutebrand findet, dass man der kleinen Schwester in ihrem neuen Kleid die Müllers Tochter durchaus noch ansehen kann. Im Gegensatz zu Ortrun, deren Erscheinung erweckt in dem Müllergeselle das Gefühl, als wäre sie eine Mischung aus Prinzessin und Kriegerin. Nichtsdestotrotz würde jemand den dreien zusammen auf ihrer Wanderung begegnen, sie würden auf keinen Fall unbemerkt bleiben. Zu auffällig waren die Mädchen in den neuen Kleidern und dazu Teutebrand in seinem hellen Pullover mit den auffallenden Mustern. Nicht zu vergessen ist hier die Dachsmütze, welche der Junge ständig aufhat. 'Wohin wohl diese Paradiesvögel gerade unterwegs sind', würde sich vielmehr jeder wundern, sobald er ihren Weg kreuzt. Endlich ist der Tag gekommen, an dem die drei gleich nach dem Frühstück zu ihrer Reise aufbrechen wollen. Selbst der jüngere der beiden Esel steht bereit, auch er soll mit ins Sommercamp kommen. Es hatte sich einiges an Gepäck angesammelt, sodass das Tier dieses würde tragen müssen. Die Mädchen verabschieden sich ausgiebig von ihren Eltern. Jedem Einzelnen von ihnen ist anzusehen, wie schwer ihm die bevorstehende Trennung fällt. Zuvor hatten die Schwestern höchstens gelegentlich einmal alleine auf einem der anderen Höfe im Seitental übernachtet. Genauso ist es Teutebrand anzumerken, dass er die Wassermühle und seine Arbeit dort vermissen würde. Die bunte Wanderschar ist erst wenige Schritte weit gegangen, da taucht mit einem Male die Elster auf. Der gefiederte Geselle hatte offenbar beschlossen, sich der Gruppe bei deren Wanderung nach Murrtal anzuschließen. Zuerst flattert der Vogel aufgeregt um die drei herum, bald setzt er sich indes auf die Schulter des Jungen. Munter zieht die kleine, fröhliche Gruppe sodann den ansteigenden Weg entlang und hat recht bald die Anhöhe über dem Tal erklommen. Die Gefährten drehen sich oben angekommen nochmals um. Sie werfen einen letzten Blick zurück auf die alte Heimat, die Wassermühle, das Seitental und auf Fentovia, welches tief unter ihnen scheinbar ruhig und idyllisch in der weiten Aue liegt. Den dreien will es nicht so einfach gelingen, sich von diesem Anblick loszureißen, schlussendlich drängt vor allem Ortrun zu einem raschen Aufbruch. 'Sie werde etwa nicht schon jetzt Heimweh bekommen oder sentimental werden', herrscht sie Ferun flapsig an. Die Angesprochene antwortet der großen Schwester erst gar nicht, anstelle dessen wirft sie dieser nur einen giftigen Blick aus den Augenwinkeln zu. Bevor sie ihren Weg endgültig fortsetzen, wechselt die Elster von ihrem Sitzplatz auf Teutebrands Schulter geschwind hinüber zu dem Rücken des Esels. Jener scheint sich wenig daran zu stören und unbeirrt trottet er auf dem breiten Pfad gemächlich weiter. Dem vorwitzigen Vogel scheint der Schalk im Nacken zu sitzen, denn nun pickt der gefiederte Geselle bei jeder sich bietenden Gelegenheit dem großen Tier in eines seiner beiden langen Ohren. Als Reaktion wiegt der Esel sein schweres Haupt hin und her, während er gleichzeitig versucht, die Elster mit einem nervösen Zucken der Ohrmuscheln abzuwehren. Eigentlich hatte der Müllergeselle gedacht, der Weg in sein Heimatdorf wäre leicht zu finden. Der Pfad gabelt sich gleichwohl bald nach der Anhöhe und Teutebrand plagen leichte Zweifel, in welche Richtung sie ihre Wanderung fortsetzen sollten. Bisher hatte er am niedergetreten Gras und ausgetreten, kahlen Flächen zwischen den umgebenden, üppigen Wiesen ziemlich unkompliziert erkennen können, wohin sie gehen mussten. Gelegentlich, meist in der Nähe von Pfützen im weichen, feuchten Untergrund, waren sogar Wagenspuren zu finden gewesen. Dies war auch nicht sehr verwunderlich, denn der Weg nach Fentovia wurde doch von vielen Kaufleuten und Reisenden begangen. An der Weggabelung zögert Teutebrand freilich für einen Moment und er schaut sich ratsuchend um. Schließlich meint er eine Gruppe von Bäumen wiederzuerkennen, welche ihm sein Vater damals auf dem Hinweg gezeigt hatte. 'Man könne sich daran orientieren, wenn man den Abstieg von der Hochebene hinunter zur Wassermühle und nach Fentovia finden wollte', erinnert sich der Sohn, hatte ihm der Vater damals gesagt. Die Wanderer machen sich also an die Überquerung der nahezu endlosen Ebene, indem sie vorerst direkt auf die Baumgruppe zuhalten. Wenig später passieren sie bereits die Bäume und sie folgen danach an einen kaum begangen, dennoch klar erkennbaren Pfad. Nach einiger Zeit führt dieser Weg die Wanderer in einen lichtdurchfluteten Wald aus Buchen, Eichen und anderen Laubbäumen. Eine kleine Gruppe Rehe äst dort im Schatten der Bäume auf einer Lichtung. Auch Meister Reineke mit seiner Beute im Maul schaut kurz vorbei, vermutlich ist er unterwegs zurück zu seinem Bau. Als sie den Wald verlassen, liegt das grüne Meer einer Wiesenlandschaft vor ihnen, welches sich scheinbar bis zum Horizont zieht. Die Halme stehen kniehoch und sie wiegen sich in einem sanften Wind aus Westen, an manchen Stellen unterbrechen einzelne Inseln von bunten Blüten oder Haine mit niedrigen Bäumen das Grasland. Unter einem der blühenden Obstbäumen verspeisen die Gefährten einen Teil des Proviants, welchen Kunrada für sie eingepackt hatte, als gegen Mittag die Sonne am Höchsten steht. Über ihnen fliegt ein später Schwarm Gänse zwischen vereinzelten Wolkenfetzen am ansonsten blauen Himmel nach Norden. Um sie herum flattern überall Schmetterlinge, viele davon hatte selbst Ferun noch nie zuvor gesehen. Emsig Bienen sammeln mit leisem Summen Nektar an den über die gesamte Wiese verteilten Blüten in unzähligen Farben. Der Esel stillt derweil seinen Durst an einem nahen Tümpel, begleitet vom lauten Quaken der Fröschen, dem Schwirren von Libellen und dem Zirpen der Grillen. Die Elster hat auf dem Rücken des Esels ihren neuen Lieblingsplatz gefunden, nur einmal kommt sie herüber zu den dreien unter den Baum geflogen. Der Vogel lässt sich hier abwechselnd von Teutebrand und Ferun füttern. Ein wenig abseits liegt Ortrun auf dem Rücken im Gras in den warmen Sonne. Die große Schwester scheint für ihre Verhältnisse äußerst entspannt zu sein, gebannt schaut sie den ziehenden Wolken zu. Am späten Nachmittag führt sie der Weg hinab ins nächste Tal. Talaufwärts gehen sie einige Zeit den Fluss entlang, bis sie endlich den Ort erreichen, an welcher der Bach von Murrtal in den Fluss mündet. Die Hügel, die Wiesen, die Berge, die Wälder, in diesen erkennt Teutebrand die Heimat seiner Jugend wieder, und er ist erstaunt darüber, wie vertraut ihm das alles vorkommt. Die Elster setzt sich unvermutet zurück auf die Schulter des Müllergesellen und der Vogel versteckt sich dort unter der Mütze des Müllergesellen. Der Junge blickt sich verwundert um, woraufhin er einen dunklen Schatten hoch in den Lüften entdeckt. Es handelt sich um einen Falke, welcher mit weit ausgebreiteten Schwingen das Tal überquert, dann nach einigen kräftigen Flügelschlägen hinter den Wipfeln der Bäume verschwindet. Der Weg nach Murrtal ist nun nicht mehr weit und auch der gefiederte Freund beruhigt sich ganz allmählich. Als die Hütten des Dorfes in Sicht kommen, das altbekannte Örtchen an den sanften Hängen über ihnen liegt, sind die Gefühle des Müllergesellen sehr gespalten. Teutebrand freut sich gewiss seine Heimat nach der langen Zeit wiederzusehen. Nichtsdestoweniger kommt ihm im Vergleich zu Fentovia mit einem Male das gesamte Tal sehr eng und außerordentlich übersichtlich vor. Als die Wanderer schließlich Teutebrands Zuhause erreichen, sind die Eltern des Jungen mit einigen Arbeiten vor dem Haus beschäftigt. Umgehend kommt der Vater ihnen ein Stückchen entgegen gelaufen, während die Mutter beim Anblick ihres Sohnes die Hacke fallenlässt, mit der sie soeben ihr kleines Gärtchen bearbeitet hatte. Außer sich vor Glück schüttelt sie unentwegt ihren Kopf und begrüßt die drei sogleich äußerst herzlich. Darauf betrachtet Brungard ihren Zögling etwas näher. Erstaunt zeigt sie sich von der neuen Mütze, mehr noch irritiert sie die Elster, welche der Sohn bei sich hat. Dann ganz unvermittelt fängt sie an, dem Sohn den Pullover auszuziehen, weil sie ihn gleich waschen wollte. Mit Ach und Krach gelingt es Teutebrand den Zauberstab, welcher bisher im Bund der Hose gesteckt hatte, in die vordere Hosentasche zu schieben, sonst hätte die Mutter sein Geheimnis entdeckt. Nach der Begrüßung wird der neuste Klatsch und Tratsch ausgetauscht, weil Rangubald sich natürlich brennend dafür interessiert, was für Neuigkeiten es aus Fentovia zu berichten gibt. Kunradas Gemüse ist sehr willkommen, wegen seines Wetters ist Murrtal in diesen Dingen stets ein paar Wochen hintendran. Das Gepäck wird abgeladen und unverzüglich in der Scheune auf dem Wagen verräumt. Der junge Esel kann sich nun zu dem alten Grauen von Teutebrands Eltern hinterm Haus gesellen. Anschließend führt der Vater die drei hinauf zur der kleinen Hütte, dort werden die Schwestern in den nächsten beiden Tagen übernachten. Währenddessen macht es sich die Elster auf dem First der Blockhütte bequem, von dort späht sie nach einem Unterschlupf für die Nacht in den Holzstapeln direkt nebenan. Rangubald begibt sich hierauf hinunter ins Haus, um Brungard bei der Vorbereitung des Abendessens zu helfen. Der Müllergeselle nützt die Gelegenheit dazu, den Mädchen die Wandmalereien in der Höhle hinter der kleinen Stube zu zeigen. Weder Ferun noch Ortrun haben so etwas je gesehen, diese seltsamen Tiere mit den vielen Geweihen, wer sich dieses wohl ausgedacht hatte. 'Kunrada würde jetzt gewiss sofort eine Tonfigur formen, welche diesen skurrilen Kreaturen ähnlich sieht und sie vorm Haus in den Garten stellen', bemerkt Ortrun und alle drei fangen dabei an zu lachen. Am Abend sitzt die Familie sowie ihre Gäste gemeinsam unten im Haus beisammen. Teutebrand holt nach dem Essen seinen Beutel mit den Kupferstücken und der Pfeilspitze heraus. Er reicht den Inhalt um den Tisch herum, dabei muss er haarklein erzählen, wie er in den Besitz dieser in Murrtal seltenen Gegenstände gelangt ist. Freilich verharren die Schwestern die meiste Zeit ruhig auf ihren Plätzen, von der langen Wanderung scheinen sie ziemlich müde zu sein. Früh gehen sie deshalb zum Schlafen in die Blockhütte hinauf. Auch der Junge findet sich wenig später auf seinem alten Schlafplatz im Haus bei den Eltern wieder. Kurz nachdem die Sonne aufgegangen ist, geht Teutebrand morgens mit der Mutter die Schafe und Ziegen melken. Nach dem Frühstück begleiten die Schwestern Brungard beim Wasserholen. Lebhaft wird zwischen den Frauen des Dorfes oben am Wasserfall die neue Mode aus Fentovia besprochen. Derweil ist Rangubald mit dem Sohn unterwegs, damit ihm dieser beim Scheren der Schafe helfen kann. Der Vater musste sich bisher alleine darum kümmern, hatte aber noch nicht übermäßig viel erledigen können. Nun sollte bei den Tieren endgültig die Winterwolle runter, bevor es draußen so warm wäre, dass die Schafe unter ihrem dichten Pelz leiden würden. Bis zum gemeinsamen Mittagessen ist die Schafschur zu zweit weitestgehend erledigt. Den Nachmittag verbringt Teutebrand daher zusammen mit Ferun und Ortrun unten am Teich. Eine größere Gruppe der jungen Leute aus dem Dorf vertreibt sich hier die Zeit mit Angeln oder albert einfach nur vergnügt herum. Es gibt ein großes Hallo, gleich als die drei auftauchen und alle versammeln sich sofort um die Neuankömmlinge. Der Junge stellt den alten Kameraden die beiden Mädchen vor, dann muss er den anderen von seiner Müllerlehre berichten, ihnen von Fentovia und der weiten Welt erzählen. Die Meinungen der Jugendlichen zu den Schilderungen von Teutebrand sind gespalten. Viele möchten niemals in ein anderes Dorf ziehen, manche könnten sich das zumindest vorstellen. Bei den Jugendlichen aus dem Dorf dreht sich trotzdem eigentlich alles um Murrtal, das enge, beschauliche Tal mit den Wäldern, den Wiesen und dem kleinen See. Die Schwestern verabschieden sich bald darauf schon wieder, denn sie hatten Brungard versprochen, dass sie ihr bei der Zubereitung des Entenbratens für den Abend helfen wollen. Die Aufregung legt sich langsam, kaum dass die Mädchen verschwunden sind und Teutebrand bleibt mit einigen der anderen Jungen alleine am Teich zurück. Fast wie früher treiben sie ihre Späße, diskutieren sie die selben Themen wie einst. Beinahe scheint alles so zu sein, wie es vor nur ein paar Monaten jeden Tag gewesen war, bevor der Müllergeselle nach Ubil gegangen ist. Der Junge vermisst hierbei jedoch die Leichtigkeit und die Selbstverständlichkeit jener Zeit. Mehr und mehr stellt Teutebrand fest, wie fremd ihm die Jungen und Mädchen des Dorfes während seiner Abwesenheit geworden sind. Als die Gefährten sich am nächsten Tag für die Reise fertigmachen, ist ein weiteres Mal die Zeit des Abschieds gekommen. Der Esel ist gepackt, das Tier muss nun ebenfalls ein Zelt und andere Dinge von Teutebrand tragen. Der Junge hat den frisch gewaschenen Pullover zurückbekommen. Wie gehabt, wird man ihn mit der Dachsmütze auf den Kopf nahezu nicht übersehen können. Nach zahlreichen Abschiedsworten und vielen Wünschen für ein baldiges, glückliches Wiedersehen brechen die drei schließlich auf. Brungard und Rangubald, welche alleine zurückbleiben, winken den jungen Wanderern lange hinterher. Dann endlich kommt die Elster angeflogen und sie nimmt ihren trauten Platz auf dem Rücken des Esels ein. Zuvor hatte der Vater seinem Sprössling nochmals ausführlich den Weg zur Ibensul erklärt, die drei würden sich also schwerlich verlaufen können. Der Zeremonienmeister fühlt sich jetzt um Einiges erleichterter und gleichzeitig ein Stückchen beruhigter. Die Jugend des Alten Volkes in sicherere Gegenden zu schicken, dafür war es inzwischen höchste Zeit geworden. In den letzten Tagen hatte er erfahren, dass vor Feuchtau bereits Höfe gebrannt haben. 'Marodierende Truppen der Treber hätten die Anwesen überfallen und angezündet', hört man seitdem überall. Hingegen vermutet Rangubald vielmehr, dass es Banditen waren, welche die Höfe geplündert haben. Manch einer versucht gerne, solch eine Situation für den eigenen Profit auszunutzen. Sind die Dinge erst einmal in Bewegung geraten, können sie meist nur noch schwer kontrolliert werden. Gleich den meisten Bewohnern von Murrtal, gar von ganz Ephalu würden auch Brungard und er in die Wälder zurückgehen, falls es zum Schlimmsten kommen sollte. Lieber würden sie Hab und Gut aufgeben, um ihr eigenes Überleben stattdessen zu sichern. Wie in den alten Zeiten würden sie dann eben erneut durch die Täler wandern, von der Jagd sowie dem Sammeln der Früchte in Wald und Fluren leben. Im Moment bestand nach Ansicht des Zeremonienmeisters allerdings noch eine viele größere Gefahr. Die Kriegstreiber wissen stets sehr genau, wie sie ihre Landsknechte finden, denn allzu leicht ist die Jugend für den Krieg zu begeistern. Für manchen der Jungen klingt das Leben der Soldaten mit all seinen versprochenen, angeblichen Abenteuern verlockend. Einige von ihnen würden sicherlich auf die wohlklingenden Parolen des Königs hereinfallen, sich alleine deshalb den Truppen seiner Landvögte anschließen. Bei vielen anderen ist das Vagabundendasein der Krieger ebenso oft die einzige Alternative zu der beschwerlichen, eintönigen Arbeit auf dem Hof, oder dem Dienst als Knecht in der nächsten Stadt. An die Gefahren des Krieges denken die jungen Männer hierbei zuletzt. Auf diese Weise verlor schon manche Familie ihren Sohn, nicht wenige Sippen hatten aus diesem Grund heraus sogar gleich mehrere von ihren unter viel Mühen großgezogenen Kindern begraben müssen. Rangubald nimmt sich des Weiteren für diesen Abend vor, unter keinen Umständen oben in die Hütte sitzen zu wollen, um dort die Runenstäbe zu werfen. Ein wenig hatte er sein Vertrauen in diese Kunst nach den letzten Versuchen verloren. Wenn es die eigenen Belange anging, wollten die Runen offenbar mehr Verwirrung stiften, als dass sie einem Klarheit verschaffen konnten. Er würde für heute ohne Zweifel eine wichtigere Beschäftigung finden. So wartete etwa das Feuerholz für den Winter noch darauf gespalten zu werden. Selbst jetzt da es Sommer wurde, die Tage am wärmsten und die Nächte am kürzesten sind, würde dies nichtsdestotrotz gewiss die nützlichere Tätigkeit sein. Seit der Abreise aus Murrtal sind Ferun, Ortrun und Teutebrand gut vorangekommen. Gegen Mittag haben sie schon einige längere Anstiege des Gebirges hinter sich gebracht und sie legen eine kurze Rast ein. Die drei nützen die Gelegenheit, um eine Kleinigkeit von dem mitgebrachten Proviant zu essen und gleichzeitig sich etwas zu erholen. Die kleine Schwester füttert soeben die Elster auf der Schulter des Müllergesellen, da wird der gefiederte Freund mit einem Male ganz unruhig. Der Vogel schaut sich ständig nervös um, flattert mit den Flügeln und man kann von ihm schnelle, klickartige Laute vernehmen. Unmittelbar danach werden die erstaunten Gefährten von einem lauten Vogelgeschrei überrascht. Bisher war das Durcheinander der Vogelstimmen ein verlässlicher Begleiter auf ihrer Wanderung gewesen. Je höher sie aber den Vormittag über in die Berge gekommen sind, desto leiser und seltener waren diese Rufe geworden. Schließlich entdecken die Abenteurer am Waldrand unterhalb ihres Rastplatzes eine kleinere Schar Vögel. Eine Handvoll der Tiere, welche wie zu klein geratene Hühner aussehen, hat sich dort zwischen einigen jungen, niedrigen Birken auf einer nahezu kahlen Lichtung versammelt. Die Vögel haben ein ganz dunkles Gefieder das von einigen, helleren Partien unterbrochen wird, lediglich ein auffallend roter Fleck über jedem Auge ziert ansonsten ihr Federkleid. Einige der Tiere kämpfen scheinbar miteinander, andere sind damit beschäftigt seltsame Kapriolen aufzuführen, wiederum andere stolzieren aufgeregt mit geschwollenem Kamm herum. Ruhig an Ort und Stelle verharrend schauen die drei eine Zeit lang dem seltsamen Tanz der Vögel zu. Mehr als ein Mal müssen die Freunde über das furchtbar komische Verhalten der Tiere lachen, weil ihnen dieses einfach zu albern erscheint. Bald indessen setzen die Gefährten ihre Wanderung fort, weil sie sich für heute noch ein beträchtliches Stück Weg vorgenommen haben. Am späten Nachmittag halten sie hoch in den Bergen nach einem Platz zum Übernachten Ausschau. Die Sonne ist bereits am Untergehen, als sie neben einem Felsvorsprung ihr Lager aus Schafsfellen und Decken errichten. Erst vor Kurzem müssen dort andere Reisende übernachtet haben, denn die Überreste eines Feuers sind deutlich zu erkennen. In solchen Höhen kann es selbst jetzt noch abends empfindlich kühl werden. Die drei entzünden daher ein Lagerfeuer, das sie vor der Kälte der bevorstehenden Nacht bewahren soll. Als die müden Wanderer die Reste der Ente vom Vortag verspeisen, bricht allmählich die Abenddämmerung herein. Der Esel legt sich etwas entfernt von der Feuerstelle ins Gras, die Elster kauert in seinem Nacken. Offenbar hat der Vogel beschlossen, hier die Nacht zu verbringen. Am wolkenlosen Himmel werden inzwischen die ersten Gestirne sichtbar. Ein milchig wirkendes Band zieht sich etwas später über den ganzen nördlichen Teil des Himmels, während vor allem ganz oben im Zenit des Firmamentes eine Unzahl von hellen, leuchtenden Punkten zu sehen sind. Die Mädchen unterhalten sich vor dem Einschlafen leise miteinander. 'Sie würde die Finsternis eigentlich mehr mögen, als den Tag', meint Ferun. 'Ihr liefe jedes Mal ein Kribbeln den Rücken hinunter, sobald im Schein des Feuers die Schatten sich im Dunkeln so geheimnisvoll bewegen würden. Zudem könnte man nur nachts die Sterne sehen.' 'Ihr wäre der Tag viel lieber', erwidert Ortrun ihrer Schwester. 'Wenn es draußen hell sei, könne man viel klarer und wesentlich weiter sehen. Die Wolken die über den Himmel ziehen, seien sowieso interessanter, als die kleinen Lichter irgendwo da droben. Außerdem werde man tagsüber weniger von unsichtbaren Dingen überrascht, die in der Dunkelheit auf einem lauern.' Die beiden plappern auf diese Art eine ganze Zeit lang weiter. Teutebrand hört ihnen anfangs noch zu, bevor er dann irgendwann einschläft. Bei Sonnenaufgang löschen die Gefährten das immer noch brennende Lagerfeuer, räumen anschließend ihre Habseligkeiten zusammen, um hiernach sogleich erneut aufzubrechen. Gegen Mittag haben sie den größten und schwierigsten Teil ihres Weges bereits geschafft und sie lassen die höchsten Berge hinter sich. Darum legen sie eine etwas längere Pause ein und sie erholen sich erst einmal von den Anstrengungen im Schatten einiger Bäume. Ferun versucht nebenher den Esel ein wenig aufzumuntern und füttert ihn mit ein paar von Kunradas Mohrrüben. Das Tier hatte sich am Morgen ein manches Mal ein bisschen mürrisch gezeigt und war nur schwer zum Weiterlaufen zu überreden gewesen. Die Rüben, vor allem aber Feruns Streicheleinheiten, scheinen die Laune des Esels sichtbar zu heben. Einmal davon ausgegangen, dass sie sich auf dem bisherigen Weg nicht verlaufen hatten, würden sie am Abend die Ibensul erreichen. Hinter den Hügeln, durch welche ihre Wanderung sie am Nachmittag führen würde, müsste der Ritualplatz des Alten Volkes liegen. Bald schon, lange bevor das Camp der versammelten Jugend der Stämme in Sicht kommt, hören die drei vereinzelte Rufe und den Widerhall von Gelächter. Schließlich erreichen die Gefährten den Rand der Anhöhe und sie können nun endlich den weitläufigen Platz mit dem alten Baum in der Mitte vor sich liegen sehen. Die Ibensul jener mytisch verklärte Ort, ein Jeder von ihnen hatte dieses Bild noch von seinen früheren Besuchen bei der Sommerzeremonie im Gedächtnis. Eine stattliche Menge an Leuten bevölkert die belebte Wiese unten im Tal, sodass dort ein reges Treiben herrscht. Ohne größere Schwierigkeiten meistern die Abenteurer den steilen Abstieg. Soeben suchen die Wanderer am Rande des Wasserlaufes nach einer Furt, mit deren Hilfe sie das Gewässer mit dem Esel überqueren können, da werden die drei von einigen der anwesenden Jugendlichen bemerkt. Eine größere Anzahl von Teilnehmern des Campes hat sich daraufhin rasch auf der anderen Seite des Baches angesammelt, um sie zu empfangen. Manche der Gesichter kommen Teutebrand von einstigen, zufälligen Begegnungen vertraut vor, andrerseits kennt er auch viele unter ihnen überhaupt nicht. Der Müllergeselle zeigt sich daher umso erleichterter, nachdem er einige Augenblicke später Radewald in seinem groben, wollenen Überwurf und dem Trinkhorn am Gürtel inmitten der Menge entdeckt hat. Da der alte Meister im Moment seinen Falken nicht mit sich führt, bleibt die Elster ruhig auf der Schulter des Jungen sitzen. Obschon dem Vogel anzusehen ist, angesichts des lauten Durcheinanders um sie herum, dass ihn die Situation ein wenig verängstigt. Umgehend kommt der Zeremonienmeister auf die Gefährten zu und begrüßt sie äußerst freundlich. Hiernach stellt er den Neuankömmlingen die beiden Frauen aus Kerusci vor, welche eigentlich das Camp leiten werden. Gemäß ihres Standes sind die Seherinnen in dunkle, weite Kleider mit Rüschen an Halsausschnitt und den Ärmelenden gekleidet, für die scheinbar ein Übermaß an Tuch verwendet worden ist. Die langen Röcke ihrer Kleider reichen bis zum Boden und sind in viele Falten gelegt. Dazu tragen beide dunkle, ärmellose Überwürfe mit Kapuzen, unter welchen man den Ansatz ihrer Haare erkennen kann. Die Frisur der Frauen stellt gleichzeitig nahezu das einzige Merkmal dar, an dem man die zwei unterscheiden kann. Während bei der Einen dunkelrote Locken hervorschauen, sind die sichtbaren, matt glänzenden, glatten Strähnen der Anderen nahezu pechschwarz. Bedenkt man hierbei das offensichtlich fortgeschrittene Alter der Seherinnen, dann erstaunt dies umso mehr. Denn gewiss waren die beiden um einige Jahre älter, als Brungard und Kunrada die Mütter der Gefährten. In wenigen Worten erklären die Frauen die Regeln des Campes. 'Alle würden sich am Mittag und am Abend zum gemeinsam Essen treffen. Darüber hinaus gäbe es im Camp bestimmte Dienste, welche von den Jungen übernommen werden. Hierzu zählen beispielsweise Kochen oder Feuerholz sammeln, gleichwohl würden sie dies zu gegebener Zeit genauer erfahren. Ansonsten seien die Jungen frei in der Gestaltung sowie der Einteilung ihrer Zeit.' 'Den ganzen Tag über gäbe es im Lager die verschiedensten Unternehmungen und Aktivitäten, an denen sie selbstverständlich teilnehmen könnten. Diese Gruppen würden stets von einem oder mehreren der Teilnehmer des Campes geleitet, sie beide täten sich nur um die wichtigsten Dinge kümmern. Jedoch würden sie notfalls die letzte Entscheidung treffen, falls dies den nötig sei und es um Fragen von grundsätzlicher Bedeutung ginge. Etwa die Sicherung des Nachschubes an Proviant oder ernsthafte Streitigkeiten zwischen Einzelnen oder verschiedenen Parteien würden hierzu zählen. Zu solchen Auseinandersetzungen müsse es allerdings ja nicht kommen, es gäbe schon so genügend Probleme.' 'Ihnen allen sei schließlich der Grund für das Camp bekannt. Der Streit zwischen dem König der Treber und dem König in Segmunda, sowie der drohende Krieg wären die Ursache dafür, wieso sie sich hier an der Ibensul aufhielten. Freilich würden sie aber immer und jederzeit als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Etwa falls jemand Heimweh verspüre oder sonstige persönliche Probleme habe, was gewiss geschehen könnte.' Wie der Blick einer der Frauen dabei Ortrun streift, bekommt sie von der großen Schwestern ein zweideutiges Grinsen zurück, das wohl überlegen wirken sollte. Die beiden Alten durften ruhig merken, dass Ortrun auch zu Hause auf nichts und niemanden angewiesen war. Geflissentlich übersieht die Seherin das Verhalten des Mädchens, sie deutet unterdessen auf das kleine Zeltlager nahe der Felsen am nördlichen Rand der ausgedehnten Wiese. 'Die Schwestern und Teutebrand könnten ihre beiden Zelte daneben errichten', erklären die Seherinnen, bevor sie sich verabschieden, um sich wieder anderen Dingen zuzuwenden. Wie ihnen geheißen, laden die drei die Ziegenhäute für die Zelte an dem vorgeschlagenen Platz von dem Esel ab. Schnüren und Riemen, mit denen die Häute befestigt werden sollen, finden sich gleichermaßen unter den vielen Dingen in ihrem Gepäck. Ein paar kräftigere Weideruten, über welche die Zelte gespannt werden konnten, müssen indessen erst noch besorgt werden. Teutebrand hatte gleich bei ihrer Ankunft unten am Ufer des Baches ein Gehölze mit Krüppelweiden ausgemacht. Der Junge nimmt nun geschwind ein Messer zur Hand und läuft damit hinunter zu dem Gewässer, um die nötigen Äste zu schneiden. Während der Müllergeselle sich hurtig an die Arbeit macht, muss er mit einem Male an seine Kindheit in Ephalu zurückdenken. Ein jedes Mal wenn es Sommer wurde, hatte er zu Hause in Murrtal ebenfalls die Weidenruten gemeinsam mit den anderen Kindern unten am Teich geschnitten. Oft hatten sie aus den Weidenstöcken dann Flöten gebastelt oder sie hatten die biegsamen Äste ähnlich einer Angelrute eingesetzt. Selbstverständlich wurden damals auch Bögen und Pfeile daraus hergestellt. Damit hatten sie auf der Wiese nebenan Kaninchen und andere kleine Tiere gejagt. Natürlich war ihnen mit dem Spielzeug die Jagd meist misslungen. Der Müllergeselle trägt nun die Zweige in seinen Arm zurück zu den Schwestern. Die beiden haben während seiner Abwesenheit alles Nötige zurechtgelegt, somit sind die Zelte schnell zu Ende gebaut. Jetzt findet der Junge endlich genügend Zeit, nach dem Esel Ausschau zu halten, welchen er beim Aufbauen der Zelte aus den Augen verloren hat. Er entdeckt ihn nach einigem Suchen am Rande des Platzes nahe dem Ufer des Baches, dort weidet das Tier friedlich im Gras. Auf dem Rücken des Grauen sitzt die Elster, genauso wie sie es meistens auf ihrer Wanderung getan hat. Die Schwestern sind mittlerweile damit beschäftigt, ihre letzten Sachen im aufgebauten Zelt zu verstauen. 'Gewiss wäre es ausreichend, wenn er sich am nächsten Morgen um das Tier kümmern würde', meint Teutebrand zu den Mädchen an seiner Seite. Es ist wirklich spät geworden, die Dunkelheit legt sich bereits über den Platz und nahe der Ibensul werden die ersten Lagerfeuer entzündet. Die Jugend des Alten Volkes strömt derweil aus allen Richtungen herbei. Überall auf dem Lagerplatz, unten am Bach und bei den Felsen am Rand brechen die Jugendlichen auf, um sich an den Feuern zu versammeln. Das helle Lachen und das Durcheinander der Stimmen von manch einer lustigen Gesellschaft die auf der Wiese zusammengefunden hat, klingt bald darauf zu den Neuankömmlingen herüber. Die Gefährten beschließen sich den Feiernden anzuschließen und sie begeben sich ebenso zur Ibensul hinüber. Die aufgeregte Stimmung beruhigt sich nach einiger Zeit, dafür liegt nun der Geruch von gebratenem Fleisch über der gesamten Wiese in der Luft. Schon werden zwei gegrillte Wildschweine, welche für das Essen an einer der Feuerstellen zubereitet wurden, an Ort und Stelle in einzelne Stücke geteilt und hieraufhin von einigen der Jungen an die Teilnehmer des Campes ausgeteilt. Satt und zufrieden sitzen die Menschen nach dem Festmahl in fröhlicher Runde um den Schein der knisternden, flackernden Flammen beisammen. Etwas später, zu weit fortgeschrittener Nacht, erheben die Seherinnen sich von ihren Plätzen und sie streben dem alten Baum in der Mitte der Feierenden zu. Sofort verstummt die Menge, danach lauschen alle gespannt, wie die Frauen aus Kerusci beginnen, eine der alten, überlieferten Geschichten ihres Volkes vorzutragen. Das erste Lied der Seherinnen. Schein der Sonne war, der Mond den Schatten gab, gemeinsam die zwei gebaren Tag und Nacht. Sie schimmern am Firmament, schwimmen dort im Sternenmeer, ähneln den Fischen in der frischen Brise der See. Als der Tag ward, dem Wasser entsprang, ein Baum schied bald Himmelgewölb von tosendem Meer. Davon Laub fiel herab, bedeckte damit weit die See, vergingen Sommer wie Winter vergessene Mal. Bis streifte der schwangere Mond, das hell scheinende Tagesgestirn, ein Blitz brach hervor, brannte nieder den Baum. Ein lodernden Docht nur geblieben, lang nicht losch der Stumpf, schon vom Sterben ergriffen spie Flammen und Fels. Nun kalte Nacht ward, für kaum zu ermessende Zeit, beinah vergessen das Licht, verloren etwa die ganze Welt. Wieder hinauf kroch die blasse Sonne, schuf einen bleichen Morgen, stand an fernem Horizont über aus Feuer erschaffenem Land. Bald wogen Busch und Gras, unter quellenden Wolken, bibbernd sie sich sanft biegen im noch kalten Wind. Als der Mittag ward erklommen, Regen ergoss sich vom Himmel herab, die fahle Luft klärten mit ihrem Fall unzählige Tropfen. Tot darnieder einst lag der Stumpf, spross langsam neues Grün hervor, streckte sich, wuchs dem Firmament entgegen strebend. Im dichten Wurzelwerk wartete ein Wurm, auf neuen warmen Regen, die Eibe hoch sich zu ranken gleich raschelnden Girlanden. Nachdenklich wirft Ferun einen genaueren Blick auf die Ibensul, kaum dass die Seherinnen ihren Vortrag beendet haben. Sogar jetzt im Schein der Feuer sind an der hölzernen Säule neben den beiden Frauen die Spuren der verstreichenden Zeit überaus deutlich wahrzunehmen. Die Farben der einstigen Bemalung sehen verblichen aus und nur noch die kläglichen Fetzen einer früheren Dekoration hängen an dem Stamm herab. Sehr gut könnte man ihren Aufenthalt im Camp dafür benützen, die traurigen Reste des alten Baumes neu zu schmücken. Die kleine Schwester nimmt sich deshalb vor, in den nächsten Tagen einige Mitstreiter zu suchen, mit denen sie dieses Vorhaben angehen wollte. Die Mädchen verabschieden sich kurz darauf müde von der langen, ereignisreichen Reise in ihr Zelt. Der Müllergeselle möchte sich hingegen vor dem Schlafengehen noch mit dem Zeremonienmeister treffen, um mit ihm über das Zaubern und seine Fortschritte darin zu sprechen. 'Ob er sich denn schon gut im Camp eingelebt habe?', begrüßt der alte Meister den Jungen. Teutebrand ist etwas verwirrt von der überraschenden Fragen und nimmt an, dass Radewald bei den vielen anwesenden Jugendlichen einfach ein bisschen durcheinander gekommen ist. 'All zu viel Zeit habe er dafür noch nicht gehabt', antwortet der Junge geistesgegenwärtig. 'Die Dinge würden sich gewiss in den nächsten Tagen finden, da wäre er sich ziemlich sicher. Doch was ihn wirklich interessiere, sei das Zaubern. Fleißig habe er seit ihrer letzten Begegnung in Fentovia geübt. Jetzt sei er auf die Meinung des alten Meisters gespannt. Ansonsten würde ihn brennend interessieren, was ihm Radewald des Weiteren darüber erzählen könnte!' 'Zaubern nur wegen des Zauberns Willen sei eine brotlose Kunst und stelle nichts als Unsinn dar', setzt Radewald zögerlich zu einer etwas ausführlicheren Erklärung an. Nach einer kurzen Pause, die der alte Mann dazu nützt, den Jungen für einige Momente mit funkelnden Augen zu mustern und wobei er sichtlich am Überlegen ist, führt der Zeremonienmeister seine Ausführungen fort. 'In diesem Sinne sei auch die Verwendung des Zauberstabes und der Zaubersprüche zu verstehen. Beides wäre für das Zaubern nicht unbedingt nötig, stelle aber eine nützliche Zierde für jeden Zauberer dar, mit deren Hilfe er bei seinen Beobachtern ordentlich Eindruck schinden könne. Ein kräftiges Hokuspokus zur rechten Zeit sei meist ausreichend, damit ein Zuschauer keine Fragen danach stellen würde, wie etwas wirklich funktionieren tut.' 'Ähnlich verhalte es sich mit dem Zaubern aus dem einzigen Grund heraus, die Zuschauer beeindrucken zu wollen. Dies sei eigentlich nicht angebracht und wäre mehr etwas für Scharlatane und Gaukler. Schließlich werde ihr Handwerk nicht umsonst als die schwarze Kunst bezeichnet. Dies hätte durchaus seine Berechtigung, denn es würde das eigene Tun von dem zweifelhaften Treiben solcher Leute unterscheiden. Allzu zu oft würde mit der Zauberei Unfug getrieben, obschon es stets eines wichtigen Anlasses bedürfte, bevor ein Zauber eingesetzt werden sollte.' 'Genauso wenig könnte man irgendeine Sache durch das Zaubern wirklich verändern', fügt Radewald hinzu. Der Zeremonienmeister zeigt Teutebrand im Anschluss an seine Rede den Trick der Verwandlung. Das Opfer ist eine ganz gewöhnliche Maus, welche sich zufällig in der Nähe der beiden an den übriggebliebenen, heruntergefallenen Krümmel des Abendessen gütlich tut. Der routinierte Zauberer verwandelt diese mit einem Schnippen der ersten drei Finger seiner linken Hand in ein graues Kaninchen mit zahlreichen dunklen Flecken auf dem Fell. 'Würde man das Kaninchen jetzt fangen und es sodann über dem Feuer grillen, würde dies nicht recht funktionieren. Der Braten er würde nach Maus schmecken und ganz gewiss würde man davon nicht satt werden.' 'Freilich ebenso könne man einen mit Wein gefüllten Becher in einen Beutel voller goldener Münzen verwandeln. Wollte man die Münzen anschließend zu einem soliden Barren aus Gold einschmelzen, würde dies schlichtweg nicht gehen. Wieso dies nicht möglich wäre, dafür sei der Grund, dass die Münzen eigentlich immer noch aus Wein bestehen würden. Man könne dies leicht überprüfen, indem man die Goldstücke in einen Becher mit Ziegenmilch wirft. Die Münzen würden in der Milch schwimmen, anstatt im Becher unterzugehen, wie man dies erwarten würde. Gleichfalls würde es jemanden schwerfallen, mit solchen Münzen in einer Schenke seine Zeche zahlen zu wollen. Mit Schimpf und Schande, geteert und gefedert aus dem Dorf gejagt zu werden, sei noch das Beste, womit solche Halunken rechnen könnten.' Im selben Moment in dem Radewald dies erzählt, verzieht der alte Meister sein Gesicht, geradewegs als ob er Zahnschmerzen verspüren würde. Nur zu gut kennt Teutebrand diesen Ausdruck, gleichfalls den in den Augen des Zeremonienmeisters. Rangubald sah oft morgens genauso aus, wenn er am Abend vorher lange in der kleinen Hütte gesessen hatte. Lediglich eine Salbe oder ein Kräutertrank von Brungard konnten dem Vater in einem solchen Fall helfen.