Kapitel 2 - Murrtal Das aufgeregte Gebell der Hunde konnten Brungard und Rangubald bereits hören. Allzu lange sollte es nicht mehr dauern, bis sie zu ihrem Heimatdorf Murrtal gelangen würden. Die handvoll Häuser des idyllischen Fleckens könnte man bestimmt gleich am Rande des Waldes bei den letzten Bäume sehen. Die Legende des Dorfes Murrtal begann mit Ulfiss. Der Sohn eines einfachen Bauern, aus einem weiter nördlich gelegenen Ort in Ephalu, hatte die Siedlung Murrtal einst gegründet. Damals hatte eine Truppe nomadischer Reiter, aus dem Gebiet östlich des großen Moores mit den vier unheilvollen Strömen, die Freiheit des Volkes vom Hohen Stein bedroht. In blutigen, verlustreichen Kämpfen konnte Ulfiss diese Krieger der Steppen und der Ebenen besiegen. Die Eindringlinge verschwanden hiernach beinahe noch schneller, als sie zuvor aufgetaucht waren. Über Ulfiss wurden annähernd so viele Geschichten erzählt, wie über den legendären Stammesführer Knadaroek der Gründungsvater der Sippe der Ephalumannen. In der Zeit der großen Prüfung war Knadaroek einer jener Anführer des Alten Volkes gewesen, welche gemeinsam das Heer des Schreckens besiegt hatten. Aus den bis dahin als umherziehende Jäger lebenden Stämmen, wurden zu jener Zeit sesshafte Bauern. Ephalu, Kerusci, Tenctera und zahlreiche weitere Länder wurden in jenen längst vergangenen Tagen gegründet. Hunderte von Jahren waren seitdem vergangen und die Menschen in diesen Gebieten lebten inzwischen im Wesentlichen vom Bestellen ihrer Felder und von ihrem gehaltenen Vieh. Wenngleich die Jagd auf die zahlreichen wilden Tiere in den Tälern der Umgebung, sowie das Sammeln von Beeren und Früchten in Wiesen und Wäldern, noch immer mit für ihr Überleben sorgte. Die Brunnenwächterin und der Runenmeister hatten mittlerweile den Saum des Waldes erreicht und vor ihnen auf der anderen Seite des Tales war ihr Heimatdorf zu erkennen. Die annähernd ein Dutzend Hütten der einzelnen Familien lagen lose den Hang entlang verteilt. Es war bereits vor einiger Zeit dunkel geworden, daher brannte kaum irgendwo mehr das Licht, weshalb man lediglich die Umrisse der Häuser ausmachen konnte. Ein Stückchen unterhalb des Dorfes war am Grund des Tales die Spiegelung einer größeren Wasserfläche wahrzunehmen. Einen von Schilf und Hecken gesäumten Weiher konnten man deshalb höchstens dort erahnen. Ein leises, stetes Rauschen, Gurgeln und Gluckern war von weiter hinten im Tal zu hören. Die Geräusche stammten von einem Wasserfall, der hier einen etwas höheren Felsabbruch hinabstürzte. Er bildete einen von mehreren Zuflüssen, welche den Dorfteich speisten. Talabwärts entsprang dem traulich daliegenden See ein ruhig vor sich hin fließender Bach. Das schmale Gewässer zog sich in zahlreichen, verschlungenen Schleifen durch die tiefer gelegene Talaue. Über jedem der Häuser im Tal hing Rauch, bestimmt wartete also auch auf die Wanderer schon die warme Stube. Nach den Entbehrungen der vergangenen Tage ihrer Reise, die Brungard und Rangubald im Freien verbracht hatten, würden sie sich bald gleichfalls an der Feuerstelle erwärmen können. Das Zuhause des Paares war die am weitesten oben gelegene Hütte in der überschaubaren Siedlung. Auf ihrem Weg durch das Dorf trafen sie auf keine Menschenseele. Selbst die Hunde hatten aufgehört zu bellen, nachdem sie die beiden erkannt hatten. Nur eine Katze schlich um das Eck einer der Hütten, drehte sich kurz nach ihnen um und verschwand darauf geradewegs so, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Brungard hatte die Tür ihres Hauses erst einen Spalt weit geöffnet, da erblickte sie sogleich Teutebrand. Wie sie ihm aufgetragen hatte, war der Sprössling gerade mit dem Rupfen einer Ente beschäftigt. Vor der Abreise hatte die Brunnenwächterin ihrem Sohn ausführlich erklärt, wie er den Vogel von seinem Gefieder befreien konnte. Wichtig war dabei, dass das Tier zuerst kurz in heißes Wasser getaucht wird, bevor man mit dem Rupfen beginnt, dann würde einem die Arbeit leichter von der Hand gehen. Ihr Sohn hatte indessen die Ente bereits fertig geputzt und musste nun lediglich noch die heruntergefallenen Daunen und Federn zusammenkehren. Das ausgerupfte Gefieder würden sie morgen säubern und anschließend trocknen lassen, um es später für ein Kissen oder eine Decke verwenden zu können. Solange Rangubald und Teutebrand mit dem Auspacken und dem Verstauen ihres Gepäcks beschäftigt wären, würde sie aus dem Entenklein eine Suppe kochen, diese sollte es zum späten Abendessen geben. Den Braten wollte sie an einem der nächsten Tage zubereiten, wann genau wusste Brungard im Moment jetzt selbst nicht. Der Sohn begrüßte die Heimkehrer freudig. 'In den letzten Tagen sei es ihm doch ab und an langweilig geworden, vor allem wenn er Nachts ganz alleine im Haus gewesen war', erzählte der Sprössling den Eltern nachdem alle am Tisch saßen und die Suppe aßen. 'Meistens sei er dennoch ganz gut zurecht gekommen, nur einmal hätte er kleinere Probleme gehabt. Dies sei an dem Tag gewesen, als der Esel ausgebüxt wäre und er das Tier suchen gehen musste. Von den anderen Dorfbewohner hatte niemand den Esel gesehen und weder am Teich, an dem Bach oder oben am Wasserfall war das Tier zu finden gewesen. Dies bedeutete natürlich ebenfalls, dass der Graue zumindest nicht ins Wasser gefallen war, da er ansonsten hierbei möglicherweise hätte ertrinken können.' Der Junge hatte aus diesem Grund heraus beschlossen, das Tier weiter hinten im Tal suchen zu gehen. Wie er nun voll Sorge um den Esel durch den Wald lief, kam ihm vieles von dem beängstigend vor, was um ihn herum geschah. Sogar wenn nur eine Eule schrie, jagte ihm dies plötzlich einen Schrecken ein. Obwohl Teutebrand normalerweise eigentlich nicht sehr furchtsam war und er den Ruf des Vogels bestens kannte. Es wird dem Esel hoffentlich nichts passiert sein, die Mehrzahl der anderen Tiere der Flure und des Waldes werden dem Tier kaum etwas angetan haben. Den Marder, den Biber und den Dachs, die Hasen, die Rehe oder die Hirsche musste der Graue sowieso nicht fürchten. Selbst der Fuchs, der Luchs, nicht einmal die Wildschweine waren für den Esel wirklich gefährlich. Auf den Bär und die Wölfe hätte der Graue gewiss achten müssen, falls diese zur Zeit im Tal unterwegs gewesen wären. Allerdings wären momentan Bären oder Wölfe in ihrer Gegend umhergestreift, ein jeder hätte dies sofort gewusst. Die allermeisten Vögel waren hingegen völlig harmlos für das große Tier. Mit dem Falken, den er im Wipfel eines Baumes sitzen sah, verhielt es sich in dieser Hinsicht genauso. Eine Gefahr sah der Junge höchstens darin, wenn einer der Geier sich am verunglückten Grauen zu schaffen gemacht hätte. Teutebrand war das Tal bereits ziemlich weit hinaufgestiegen, ohne auf ein Lebenszeichen des Esels gestoßen zu sein, da hörte er unvermittelt den Schrei des Tieres. Die Stimme des Grauen kam scheinbar von einer in der Nähe gelegenen Lichtung. Mehrere große, klobige Felsen befanden sich auf diesem engen, offenen Platz zwischen den Bäumen und machten die Lichtung zu einer ganz besonderen Stelle im Wald. Vier kleinere Findlinge standen dort nahezu aufrecht in der Waldwiese und diese waren fast völlig mit Moos überwachsen. Waagerecht über ihnen lag eine immense Steinplatte, diese war derart riesig, dass leicht ein ausgewachsener Ochse darauf gepasst hätte. Alle nannten diesen Ort nur den großen Tisch, freilich bei den Steinen konnte der Junge den Esel ebenso wenig finden. Außer Frage stand, dass er den Schrei des Tieres gehört hatte, deshalb kletterte der Junge auf den seltsamen Steinhaufen hinauf. Zwar hatte er dies zuvor niemals getan, jedoch hoffte er, von oben einen besseren Überblick zu haben. Nach einigen Anläufen stand Teutebrand letztendlich auf der Steinplatten, genau in diesem Moment drang völlig überraschend die Sonne durch die Wolken. Die Sonnenstrahlen blendeten den Jungen, alles in ihm fühlte sich kurz darauf ungewohnt warm an, dann wurde es ihm schlagartig schwarz vor den Augen. Einige Zeit musste er wohl bewusstlos gewesen sein, denn er wusste nicht was danach geschah. Etwas später war er auf der Steinplatte liegend aufgewacht und immer noch ein bisschen benommen, versuchte er umgehend aufzustehen. Anschließend schaute er sich oben auf dem Tisch stehend auf der Lichtung um. Zwar war die Sonne zwischenzeitlich erneut hinter den Wolken verschwunden, den Esel konnte er trotzdem nirgendwo entdecken. Erst als er abermals seinen Schrei hörte, fand er das vermisste Tier endlich. Von einem Gebüsch halb verdeckt stand der Graue am Rande des Waldes und er weidete friedlich im Gras. Daheim beim Abendessen wollte Teutebrand den Eltern natürlich nicht von seiner Ohnmacht erzählen. Wahrscheinlich hätten sie sich Sorgen gemacht oder gar mit ihm geschimpft, deshalb ließ der Junge diesen Teil der Geschichte nun einfach weg. Die Brunnenwächterin und der Runenmeister machten sich von daher wenig Gedanken über die Schilderung ihres Sprösslings von seinem Waldspaziergang. Vielmehr hörten sie ihrem Sohn geduldig zu, obschon sie seiner Erzählung keine besondere Bedeutung zumaßen. Müde von der langen Wanderung kehrte nach dem Essen in der heimatlichen Stube bald Ruhe ein. Rangubald fühlte sich am nächsten Morgen sehr schnell im Haus überflüssig. Brungard hatte natürlich umgehend das Zepter übernommen. Sie schickte Teutebrand die Ziegen melken und sie war darauf mit dem Jungen die Eier im Hühnerstall suchen gewesen. Sicherlich würden die beiden gleich mit einigen leeren Eimern aufbrechen und hinüber zum Wasserfall gehen, da das Wasserfass im Haus aufgefüllt werden musste. Die sich ihm bietende, durchaus nicht unerwartete Gelegenheit wollte der Runenmeister dazu benützen, um in seinem eigenen kleinen Reich nach dem Rechten schauen zu können. Sein ganz persönlicher Rückzugsort war eine Blockhütte, welche sich etwas weiter oben hinter dem Haus befand. Das ziemlich alte und schiefe Hüttchen stand dicht vor einer steilen Felswand, an seiner Rückseite war es obendrein ein Stückchen in den Hang hineingebaut. In der Jugend von Rangubald wuchs links davon eine dichte Hecke, die den Platz für die Ziegen abgrenzte. Das Feuer brannte früher die meiste Zeit vor und nicht in der Hütte, zumindest soweit er sich noch richtig daran erinnern konnte. Nicht nur seiner Vater auch er selbst war einst dort aufgewachsen. Damals als der Großvater und der Vater gemeinsam das neue Haus gebaut hatten, war der Runemmeister ungefähr im heutigen Alter seines Sohnes Teutebrand gewesen. Jetzt nutzten sie die Hütte üblicherweise als Speisekammer und Lager. Sollte er für einen der Dorfbewohner die Runen befragen, so tat er dies meist gleichfalls hier oben. Im Gegensatz zu Brungard die in ihrer Funktion als Brunnenwächterin die Leute lieber in ihren Häusern besuchte. Rangubald hob die Holzbohle an, welche die Tür der Blockhütte verriegelte und er warf einen Blick hinein. Von der Decke herab hingen an dünnen Schnüren und schmalen Lederstreifen zahlreiche Bündel von getrockneten Kräutern. Brungard hatte sich offensichtlich ein weiteres Mal ein bisschen mehr ausgebreitet. Seit dem letzten Mal, dass er sich in der Hütte aufgehalten hatte, waren die Kräutersträuße viel zahlreicher geworden, wenigstens erweckte es in ihm diesen Eindruck. Außer einem kleinen Ofen, den Rangubald bereits von längerer Zeit aufgestellt hatte, standen lediglich ein Tisch, eine Bank und zwei Schemel aus Großvaters Zeiten in der Hütte. An den Wänden waren offene Kisten mit Rüben und Wurzeln darin aufgereiht. Daneben wurde eingemachtes oder getrocknetes Obst und Gemüse in tönernen Gefäßen aufbewahrt. Freilich der Winter würde sich bis zum Frühling, seinem geplanten Besuch bei Friedenreich, noch lange hinziehen. Rangubald wollte trotzdem schon einmal die vorhandenen Vorräte überprüfen, vor allem jene welche im Lager aufbewahrt wurden. Er wollte sich einfach abermals vergewissern, ob seine Reise nach Fentovia denn wirklich nötig wäre. Das eigentliche Warenlager befand sich hinter der rückwärtigen Wand der Hütte. Es war nicht sofort zu erkennen, weil das Fell eines Hirsches vor dieser Tür hing. Der versteckte Durchgang führte in eine kleine, dahinterliegende Höhle. In dem von massiven Felsschichten umgebenen Lager war es das gesamte Jahr über nahezu gleich warm oder kalt, dies kam darauf an, wie man es betrachtete. Vor allem war es in diesem Raum völlig trocken, weshalb die eingelagerten Dinge nicht so leicht verdarben. Ein jedes Mal wenn Rangubald die Höhle betrat, musste er den Kopf schütteln. Augenscheinlich hatte sein Großvater, der Vater, oder auch die Großmutter an die er sich kaum erinnern konnte, eine künstlerische Ader gehabt. Einer von ihnen hatte wohl die Höhlenwände bemalt, denn diese waren über und über mit roten, schwarzen und ockerfarbigen Bildern bedeckt. Anscheinend stellten die Zeichnungen meist Tiere dar, wobei der Runenmeister jedoch keine auffälligen Ähnlichkeiten zu ihm bekannten Kreaturen finden konnte. Unbestreitbar hatte der Künstler eine besondere Vorliebe für Geweihe gehabt. Bei einem der Tiere, das scheinbar größer als ein Ochse war und das eine Paar Ohren besaß, sodass jeder Esel vor Neid erblasst wäre, wuchs das Geweih mitten aus dem Mund. Das Gleiche bei einem weiteren Tier, möglicherweise sollte es ein Wolf sein. Dem Tier wuchs genauso ein Geweih aus dem Mund, darüber hinaus hatte sein Fell mindestens so viele Punkte wie ein Marienkäfer. Nun vielleicht hatte der Wolf wenige Augenblicke zuvor eine Ziege verspeist und litt überdies gerade an Fleckfieber. Das Lager war gut gefüllt, das vergangene Jahr hatte das passende Wetter gebracht und die Felder waren prächtig gediehen. An die Wände angelehnt, standen vor den Bildern überall Säcke und Körbe voll gedroschenem Getreide auf dem Boden. Dieses war zum einen als Vorrat bis zur nächsten Ernte gedacht, zum anderen Teil für die Saat im Frühjahr vorgesehen. Auf jeden Fall war es dermaßen viel, dass er einige der Getreidesäcke bei Friedenreich in der Mühle mahlen lassen wollte. Seine Reise nach Ubil würde sich ohne Zweifel alleine für diesen Zweck lohnen. Die verschiedenen Felle einer größeren Anzahl erlegter Tiere, die sich ebenso im Lager stapelten, wollte Rangubald in der Stadt gerben lassen. Auf dem Markt in Fentovia würde er beides das Mehl und das Leder gut verkaufen können, davon war er fest überzeugt. Außerdem bewahrte er in der Höhle getrocknetes oder geräuchertes Fleisch auf, jedoch nie allzu viel davon. Besser war es bei diesen Dingen, wenn sie bald gegessen wurden, bevor sie schlecht werden konnten. Auf Grund der Jagd, als auch wegen des gehaltenen Viehs, war frisches Fleisch zudem unabhängig von der Jahreszeit fast immer verfügbar. Der Runenmeister wandte sich zum Schluss einem Fass zu, welches ebenfalls in der Höhle gelagert wurde. Er leerte vorsichtig etwas vom Inhalt des Fasses in ein handliches Tongefäß, aus welchem er sodann mit kleinen, prüfenden Schlücken trank. Sicherlich, dies wird gewiss ein Guter in diesem Jahr. Plötzlich fiel ihm ein, dass er sich noch um die Hunde kümmern musste. Rangubald holte vorne in der Hütte eine der herumstehenden, leeren Schüsseln und füllte mehrere handvoll Getreide hinein. Nun legte er einige Brocken des getrockneten Fleisches hinzu, praktischer Weise befanden sich kräftige Knochen an den überaus fettigen Stücken. Im Hinausgehen öffnete er den Deckel eines der größeren Tongefäße, sofort stieg ihm ein saurer Geruch in die Nase. Er nahm zwei der obenliegende Strunkstücke des Krautes heraus und bedeckte damit das restliche Futter in der Schüssel. Unten im Haus wollte er die Getreidekörner zerdrücken, zusammen mit dem Fleisch wässern und darüber den kleingehackten Strunk legen. Den vollen Fressnapf würde er schließlich zu den Hunden bringen. Mit ausgelassenem Gebell wurde Rangubald von den Vierbeinern begrüßt. Sofort hingen die Hunde mit ihren Köpfen begierig über der Schüssel und während sie fraßen, kraulte er einem von ihnen zwischen den Ohren. Nicht weit von ihm strichen einige der Dorfkatzen auffällig unauffällig herum. Gewiss spekulierten sie darauf einen Anteil abzubekommen, zumindest sich über die Reste hermachen zu können, nachdem die Hunde gefressen hatten. Der Runenmeister spürte, dass er ganz froh war, wieder zu Hause zu sein. Selbst die Sonne schien an diesem kurzen Wintertag und bald würde es schon Mittag sein. Er ließ seinen Blick über das Tal mit dem Dorf und dem Teich streifen. Die Frauen des Dorfes konnte er droben am Wasserfall beobachten, wie sie gerade Wasser holten. Unten an dem kleinen See fischten einige der Jungen. Die Enten fühlten sich offenbar davon gestört. Ebenso die Gänse die eigentlich wilde Zugvögel waren und sich vor einigen Jahren einfach zu den Enten hinzugesellt hatten. Im Moment schwammen die Gänse laut schnatternd auf dem Dorfteich, die Enten kauerten unterdessen im Schilf einer winzigen Insel annähernd in der Mitte des Weihers. Aufgeregt quakend, versuchten sie sich dort zu verstecken. Weiter vorne im Tal auf einer eingezäunten Wiese weideten den Winter über die wenigen Kühe des Ortes. Dicht bei den Tieren stand eine Gruppe von Männern aus dem Dorf, diese unterhielten sich lebhaft miteinander und sie fuchtelnden dabei heftig mit ihren Händen herum. Vermutlich ging es wie üblich einmal mehr um die Frage, ob man besser Rinder oder Schafe und Ziegen halten sollte. Gelinde ausgedrückt, war er selbst von den Kühen nicht sonderlich begeistert. Ihr Tal war für eine Rinderherde einfach zu eng. Oberhalb des Dorfes waren die Wiesen zu steinig und die Aue unterhalb des Teiches war viel zu nass für die schweren Tiere. Von den Schwierigkeiten mit den Stieren ganz zu schweigen, auch wenn sie für dieses Problem eine Lösung gefunden hatten. Zwei Stiere die den Dörfern der Umgebung gemeinsam gehörten, standen nun das ganze Jahr über auf der Weide im Tal nebenan. Zusammen mit den Kühen aus all den umliegenden, kleineren Weilern würden gleichfalls die Rinder aus Murrtal dorthin gebracht werden, sobald der Frühling sich abzeichnete. Den Sommer würde das ganze Vieh im Nachbartal verbringen und dort gleichfalls gemolken werden, ohne dass viel weitere Aufsicht nötig wäre. Rangubald erinnerte sich mit Schrecken an die Zeit zurück, als sie vor einigen Jahren im Dorf einen eigenen Stier besessen hatten. Damals waren die Bewohner Murrtals manchen Tag damit beschäftigt gewesen, den Stier zuerst einzufangen und ihn darauf zu beruhigen. Ansonsten hätte er vermutlich alle Hütten eingerissen und die ganze Siedlung dem Erdboden gleichgemacht. Bei einen Ziegenbock brauchte man sich diese Sorgen nicht zu machen. Der gab auch so Ruhe, solange bloß die Herde der Gaisen um ihn herum war. Die Schafe lieferten ihnen zudem die Wolle, die sie nicht nur für die Kleidung verwenden konnten. Dies war für den Runenmeister ein weiterer, wichtiger Grund der gegen die Rinderhaltung sprach. Einmal ganz davon abgesehen, dass das Fleisch einer Ziege oder eines Lammes lang nicht derart zäh war, wie jenes eines Ochsen. Anders als bei Kühen hielt eine Schafherde das Gras sogar an beinahe unzugänglichen Stellen kurz und dies ohne alles Andere hierbei zu zertrampeln. Nun wenn die Kühe im Frühjahr weg wären, würden sie die Weide umpflügen, um Kraut und Rüben darauf ausbringen zu können. Diese Feldfrüchte wuchsen dort danach erstaunlich gut. In der kalten Jahreszeit fiel wenig Arbeit auf den Feldern an, daher verliefen die nächsten Tage und Wochen vergleichsweise ruhig. Ihre Reise zur Winter-Zeremonie hatte die Brunnenwächterin inzwischen bis in die kleinste Einzelheit mit den anderen Frauen beim Wasserholen besprochen. Ja, ja, sie waren bekannt die jungen Mädchen von Sagumbra, viele hielten sie für eingebildet. Manch eine der Frauen des Dorfes fragte sich, was ein junger Mann von Usipata ausgerechnet mit so einer wollte. Im Haus hatte Brungard mittlerweile das Spinnrad aufgestellt. Sie würde jetzt bestimmt genügend Zeit haben, damit sie für Teutebrand einen neuen Pullover stricken konnte, wenn dieser nun bald nach Fentovia gehen würde. Zu Beginn hatte sie sich überlegt, ob sie das Kleidungsstück mit den aufgestickten Tierbildern aus der Höhle versehen sollte, doch hatte sie diesen Gedanken relativ rasch verworfen. Jetzt wollte sie den Pullover mit einem Muster aus Hirschen am Bund verzieren und die Ärmelenden sowie der Halsausschnitt würden je eine Reihe Feldhasen abbekommen. Bevor die Brunnenwächterin mit dem Spinnen beginnen konnte, musste sie zuerst die geschorenen Wollbüschel raufen. Die hellen Fasern würden sie für das Garn des Pullovers nehmen, die dunkle Wolle hingegen würden sie für die Muster gebrauchen. Während Brungard vor ihrer Arbeit saß, betrachtete sie nebenher die recht gemütliche Stube. Es war ein einziger, nicht einmal besonders großer Raum, worin die gesamte Familie lebte. Eine halbe Wand diente dabei als Abgrenzung, um die mit Steinen gefasste Feuerstelle vom restlichen Wohnbereich zu trennen. Ein aus Schilf geflochtener Durchbruch im Dach bildete den Rauchabzug direkt über dem als Ofen und Herd benutzten Platz für das Feuer. Die Tür nach draußen gleich neben der Feuerstelle, sowie je ein Fenster rechts und links davon, wurden bei Bedarf mit einem einfachen Bretterverschlag verschlossen. Jetzt im Winter hing davor zusätzlich noch eine Decke, damit es im Haus nicht so sehr zog. Auf diese Weise konnten sowohl die Tür als auch die Fenster wenn nötig trotzdem zum Lüften geöffnet werden. Viel an Mobiliar war in der Hütte nicht zu finden. Neben einem Tisch mit zwei Bänken und zwei Hockern gab es nur das Wasserfass sowie eine Truhe für die Wäsche. Im hinteren Bereich des Raumes waren die beiden Strohlager aufgeschichtet. In einem der Betten schlief der Sohn Teutebrand und im anderen schliefen Brungard und Rangubald. Darüber hinaus waren überall an den Wänden hölzerne Hacken eingelassen. Neben all den anderen Gerätschaften hing für gewöhnlich ebenso das Spinnrad dort. Wenngleich der Teich noch nicht zugefroren war, fand der Runenmeister jetzt im Winter endlich genügend Muse, damit er bei dem Haus nach dem Rechten sehen konnte. Ein paar kleinere Reparaturen waren von Zeit zu Zeit einfach nötig. Mit der Hilfe seines Sprössling, der ihm dabei zur Hand gehen würde, wären die Arbeiten bestimmt bald erledigt. Damals als die Wohnstätte der Familie neu gebaut wurde, hatten Rangubald in seiner Jugend ebenfalls mit angefasst. Die meisten Gebäude von Murrtal waren inzwischen Langhäuser, lediglich zwei Familien wohnten ganz unten im Dorf nach wie vor in den alten Blockhütten. Im Gegensatz hierzu handelte es sich bei den neuen Häusern um ziemlich schlichte Satteldachkonstruktionen. Außen an den Ecken der kürzeren Seiten trugen Pfosten je einen Traufbalken, sowie in der Mitte den Firstbalken von einer Länge von fünf bis gar sieben Männern. Sobald dieses Gerüst stand, konnte man zwischen den tragenden Stützen weitere schwächere Stämme einfügen. Die eigentlichen Wände stellten ein Geflecht aus Weidenästen dar, mit welchen auch das Dach gebildet wurde. Zum Schluss wurden die Wände auf beiden Seiten dick mit Lehm bestrichen und das Dach mit Schilf gedeckt. Wenn die Wände danach gekalkt waren, war das Langhaus auch schon fertig. Bis zu einer Breite von der Größe von drei bis vier Männern konnten die Häuser auf diese Art gebaut werden. Das Besondere an allen Häusern war, dass der Wirtschaftsbereich an der Giebelseite keine Außenwand bekam und komplett offen verblieb. Hier konnte manche Arbeit im Trockenen erledigt werden, wie etwa das Dreschen. Auch dem Vieh war es bei Bedarf möglich, sich hier geschützt vor dem Regen unterzustellen. Der Karren, es war ein Wagen mit lediglich einer Achse, welchen man früher nur in Fentovia bekommen hatte, stand gleichfalls in dieser Scheune. Rangubald brauchte den Karren nur selten, meist schliefen deshalb die Hunde darunter. Über dem Karren hing das lederne Arbeitsgeschirr des Esels für die Arbeit auf dem Feld und im Wald an der Wand. Einen Teil dieses Geschirres konnte man ebenso dazu verwenden, um das Tier vor dem Karren einzuspannen. Mit seinem Sprössling an der Seite nahm der Runenmeister nun eine genauere Inspektion des Hauses vor. Eigentlich schien alles völlig in Ordnung zu sein, nur als sie die Scheune betraten, fielen Rangubald sofort am Dach einige durchfeuchtete Stellen auf. Deshalb schickte er Teutebrand hinunter zum Teich, der Junge sollte für ihn am Wasser einige Schilfrohre schneiden. Freilich hätte er früher an das Schilf gedacht, hätte man es zuerst trocknen lassen können, dies wäre zweifellos besser gewesen. Er war jedoch im Herbst einfach nicht hierzu gekommen und von daher müsste es eben auch auf diese Weise gehen, zumal lediglich der Wirtschaftsbereich des Hauses betroffen war. Sogleich konnte er am lauten Geschnatter der Gänse hören, dass der Sohn tat, was er ihn geheißen hatte. Der Runenmeister war unheimlich stolz auf seinen Jungen, so geschickt wie er sich in vielen Dingen anstellte. Die Hilfe seines Sprösslings würde ihm gewiss fehlen, in der Zeit in welcher dieser in Fentovia weilen würde. Das Einschlagen des Holzes war eine andere Tätigkeit, die an den kalten Tagen im Winter erledigt werden musste. Das Fällen der hochgewachsenen Bäume war hierbei der Teil der Arbeit, der den geringsten Aufwand verlangte. Weitaus schwieriger war es, die geschlagenen Holzstämme zusammen mit den umgeknickten Bäumen des Sturmes vom letzten Jahr aus dem Wald herauszuschaffen. Dafür würde er Teutebrand gut gebrauchen können, desgleichen würde der Esel bei dieser Arbeit von großem Nutzen sein. Einige Tage würden sie sicher im Forst beschäftigt sein. In dieser Zeit würde ihnen das kräftige Tier helfen, die unhandlichen und sperrigen Stämme zu schleppen und an den Sammelplatz am Bach zu bringen. Da es der Sprössling sowieso besser verstand, mit dem Esel umzugehen, als Rangubald selbst dies konnte, würde der Sohn das Tier bei der Waldarbeit anleiten. Nachdem die Bäume mit der Axt gefällt worden waren, mussten sie zuerst einmal entastet und in Stücke von der Länge von ungefähr zwei Männern aufgeteilt werden. Daraufhin wurde um die stärkeren der gekürzten Stämme jeweils einzeln ein kräftiges Seil gebunden und dieses am Arbeitsgeschirr des Esels befestigt. Jetzt erst konnte das Tier damit beginnen die Baumstämme aus dem Forst zu ziehen. Allerdings war dieses Unterfangen eine gefährliche Arbeit, bei der man im Besonderen auf den Esel achtgeben musste. Der Junge vergewisserte sich daher im Voraus, ob das Seil lang genug war und dass der Weg möglichst flach verlief, welchen die Holzstämme entlang geschleppt werden sollten. Außerdem musste das Zugtier stets ein Stück oberhalb des Seiles gehen, ansonsten hätten ihm die schweren Stämme in die Hinterläufe rutschen können. An den steileren Abhängen konnte der Esel eh nicht eingesetzt werden. An diesen Stellen war es besser, wenn man eine Rinne suchen ging, durch welche man das Holz bergabwärts gleiten ließ. An einem flachen Abschnitt am Ufer des Baches wurde die Stämme abgelegt. Später würde das Langholz von dort in den Teich getriftet werden. Äste und Kleinholz wurden an einem eigenen Platz gesammelt und mit dem Karren ins Dorf gebracht. Auch die übrigen Dorfbewohner waren schon im Wald unterwegs gewesen oder taten dies gerade. Die gelagerten Holzstöße nahmen deshalb immer größere Ausmaße an. Irgendwann in den nächsten Wochen würden sie gemeinsam ein Wehr bauen, damit sie alles geschlagene Holz auf ein Mal den angestauten Bach hinabschwemmen könnten. Beinahe über Nacht war es draußen richtig kalt geworden. Als Rangubald am Morgen die Hunde füttern wollte, hatte er gesehen, dass selbst die letzte offene Stelle im Teich endgültig zugefroren war. Die Enten sowie die Gänse saßen am Ufer des Weihers, starrten reichlich missmutig auf die geschlossene Eisfläche vor ihnen und schnatterten unaufhörlich wild durcheinander. Heute würde niemand im Forst das Holz einschlagen gehen, auf dem glatten Waldboden wäre dies viel zu gefährlich. Genauso gab es für die Arbeit nahe am Wasser bessere Tage. Der Bau des provisorischen Wehres, um den schmalen Bach anzustauen, er würde eben warten müssen. Rangubald war hinten im Haus damit beschäftigt ein paar Dinge aufzuräumen, da kam gegen Mittag ein Mann neben seinem Esel den Pfad durch das Dorf heraufgelaufen. Das Tier war schwer bepackt, zu seinen beiden Seiten hingen mit Lederriemen befestigt die verschiedensten Dinge herunter. Darüber auf dem Rücken des Tieres war ein erlegtes Wildschwein verstaut. Wie der Mann allmählich näher kam, erkannte der Runenmeister, dass ein Falke auf seiner Schulter saß. Es war der Zeremonienmeister und offensichtlich steuerte er zielstrebig auf ihr Haus zu. Obwohl Rangubald ihn nicht unbedingt erwartet hatte, war es doch keine große Überraschung für ihn, den überall geschätzten und geachteten Ratgeber des Alten Volkes in Murrtal zu sehen. Radewald war ständig auf Reisen und er unterließ es dabei äußerst selten, die am Wege liegenden Ortschaften aufzusuchen. Mal hier, mal dort, schlug der Zeremonienmeister für ein paar Tage sein Zelt auf, in welchem er wegen der kosmischen Energien auch immer schlief. Nie ließ er sich überreden in einem Haus oder einer Blockhütte zu übernachten. Selbst um über die letzten Geschehnisse zu diskutieren, die neusten Nachrichten zu überbringen, zog er gewöhnlich das Lagerfeuer einer Stube vor. Die Meisten vermuteten, dies würde daran liegen, dass Radewald ursprünglich aus Tenctera stammte. Manch einer von diesem Volk verbrachte heute noch die Sommer im Zelt nahe dem umherziehenden Vieh. Allerdings hatte man auch schon über den betagten Meister gehört, dass er kaum eine Hütte auslassen würde, wenn er darin etwas Ordentliches zum Zechen angeboten bekäme. Rangubald begrüßte den Gast überschwänglich, wobei ihm unwillkürlich die Suche seines Gegenübers nach einem Nachfolger in den Sinn kam. Der Runenmeister ließ sich dies natürlich nicht anmerken, Radewald musste nicht notwendiger Weise etwas von den Sorgen und den Zweifeln bezüglich der Zukunft seines Sohnes wissen. Nach seiner Ankunft schlug der Zeremonienmeister sein Zelt ein wenig oberhalb des Hauses der Familie in Richtung des Wasserfalls auf. Die Abenddämmerung war bereits angebrochen, bis er damit fertig geworden war. Danach saßen die beiden Männer oben in der Blockhütte beisammen und selbstverständlich musste Radewald ausgiebig vom Fass probieren. Brungard und Teutebrand waren währenddessen unten beim Haus beschäftigt, wo sie sich um das Vieh sowie den Haushalt kümmerten. 'Wie ihm der Neue denn geraten sei?', erkundigte Rangubald sich gespannt nach der Meinung seines Gastes, als sie schließlich vor ihren gefüllten Bechern saßen. 'Ein wenig sauer sei er dieses Jahr geraten, ob er sich schon mal Gedanken darüber gemacht hätte, den Umtrunk mit etwas Honig zu süßen?', antwortete Radewalds auf die Frage nach dem Geschmack des Getränkes. 'Er würde sich diesen Vorschlag auf alle Fälle einmal durch den Kopf gehen lassen', versprach der Runenmeister hierauf. Erwartungsgemäß kamen auch die Angelegenheiten des Alten Volkes im Laufe des Abends zur Sprache. Seit der Winter-Zeremonie waren etliche Wochen vergangen und Zeremonienmeister hatte in der Zwischenzeit in anderen Dörfern Halt gemacht. Vor allem ein Thema war es gewesen, welches bei jedem seiner Besuche interessiert hatte und über das von allen gesprochen wurde. Die Lage im Westen hatte sich noch verschlechtert, inzwischen drohte sogar ein Krieg näherzurücken. Den Berichten nach hatten am großen Strom in letzter Zeit erste, vereinzelte Scharmützel stattgefunden. Der König in Segmunda hatte umgehend einen jüngeren Landvogt eingesetzt, damit dieser Truppen aufstellen und ausrüsten sollte. Usipata und Sagumbra die mächtigen Stämme nahe der Grenze mussten für jenes neu zu bildende Heer Krieger bereitstellen und Ubil war zur Herstellung von Waffen verpflichtet worden. Rangubald kehrte in dieser Nacht mit großer Besorgnis in das Haus zurück. Gleich bei seinem Lagerplatz entzündete Radewald am nächsten Morgen ein großes Feuer, an dem er das Wildschein braten wollte. Es sollte ein Fest geben und sämtliche Dorfbewohner waren hierzu eingeladen. Ein Schwein von dieser Größe würde für sie alle reichen, die Menschen feierten daher den ganzen Tag lang fröhlich neben den wärmenden Flammen. Der Falke des alten Mannes saß unterdessen ruhig auf seinem Platz hoch oben auf dem Zelt des Zeremonienmeisters. Unterhalb des Teiches nahe einem Wasserloch in der Eisdecke des zugefrorenen Baches zankten die Hunde des Dorfes sich derweil, um die Reste der Eingeweide des geschlachteten Tieres. Radewald war mittlerweile den dritten Tag in Murrtal zu Gast. Wie es bereits die vorherigen Abende üblich geworden war, tagte er kurz nach Einbruch der Nacht erneut in der Gesellschaft von Rangubald in dem ein wenig abseits gelegenen Hüttchen. Im Haus war Brungard mit dem Stricken des neuen Pulli's beschäftigt, mit einem Male stellte sie überrascht fest, dass kaum noch Holz für das Feuer vorhanden war. Gewiss war dies kein großes Problem, sie würde einfach Teutebrand hoch zum Blockhaus schicken, damit er Nachschub holen sollte. Links von der Hütte, auf dem Platz wo einst die Ziegen ihren Pferch hatten, war ein weiterer großer Holzstoß aufgestapelt. Der Sprössling machte sich geschwind auf den Weg, indessen wurde er sogleich von den beiden Männer in die kleine Stube hineingebeten. 'Teutebrand solle sich ruhig zu ihnen setzen', meinte der Zeremonienmeister. 'Da er ja jetzt ein richtiger junger Mann sei, dürfe er doch sicher auch vom Fass trinken.' Der Sohn tat wie ihm geheißen, doch fand er das Getränk ziemlich sauer, ohne Scheu sagte er dies zu dem betagten Meister. Wenig später beschloss Rangubald, dass er Brungard selbst das Holz hinunterbringen wollte und der Vater verließ die anderen daraufhin. Bis auf einen bunt gescheckten Kater, der hier oben manchmal Mäuse fing, waren Teutebrand und Radewald nun alleine in der Hütte. 'Ob er sich für das Zaubern interessieren täte und was er im Allgemeinen von Magie halten würde?', wird der Junge nach einer gewissen Zeit vom Zeremonienmeister gefragt. 'Mit den anderen Jungen und Mädchen würde er beim Fischen unten am Teich schon des Öfteren über dieses Thema reden', antwortet Teutebrand auf die ihm gestellte Frage. 'Den einen oder anderen Trick würden er auch kennen, aber das sei ein Spiel und keine Magie. Ebenso wenig würde er eigentlich glauben, dass es richtige Magie wirklich gäbe.' Diese Worte des Jungen scheinen Radewald für einen kurzen Moment nachdenklich zu machen. 'Teutebrand würde sich in diesem Punkt möglicherweise irren,' lautet schließlich die geheimnisvoll klingende Erwiderung des Zeremonienmeisters auf die Zweifel des Jungen. 'Er könne ihm das Zaubern zeigen, es ihm vielleicht sogar beibringen', setzt der betagte Meister nach einigem Zögern hinzu. Nun zieht Radewald aus seinem Ärmel einen kurzen, dünnen, schwarz angemalten Holzstab. Indem er auf den Kater deutet, spricht er die Worte: "Hokuspokus verschwindibus, schwarz sind alle Kater." Gleichzeitig beschreibt er vor sich in der Luft mit Zauberstab drei schwungvolle Kreise. Auf ein Mal ist der farbenfrohe Vierbeiner verschwunden. Teutebrand meint seinen Augen nicht trauen zu können, daher schaut er ganz verdutzt. Sein Blick schweift abwechselnd von Radewald zu dem Ort, an dem gerade noch der Kater saß und abermals zurück zu dem alten Mann. 'Man könne den Kater genauso leicht herbeizaubern, nachdem er verschwunden sei', versichert der Zeremonienmeister anschließend dem Jungen, wobei man ihm ansehen kann, dass er dessen Verblüffung mit Genugtuung registriert hat. "Abrakadabra hullebul, der Kater er soll wiederkommen." Mit diesen Worten und dem darauffolgenden dreimaligen, kurzen Deuten mit dem magischen Stab auf die Stelle an welcher der Kater zuvor verschwunden war, versucht der Zeremonienmeister den Vierbeiner zurückzuholen. Tatsächlich taucht das Tier putzmunter sofort an genau dem selben Platz auf. 'Da wäre der Kater ja wieder!', ruft der Junge vollkommen überrascht aus. Teutebrand mag fast nicht glauben, was soeben geschehen ist. 'Das sei eigentlich gar nicht besonders schwer, solange man bloß den richtigen Spruch kenne, Teutebrand solle es ruhig mal selber versuchen', fordert der alte Mann den Jungen auf. Der betagte Meister will dem Jungen gerade den Zauberstab überreichen, doch genau in diesem Moment hören sie den Ruf des Falken von der Tür herüberschallen. Der Vogel hat den Runenmeister erspäht, welcher sich bereits auf dem Rückweg vom Haus zur Hütte befindet. Bevor dieser in die kleine Kammer hineinspazieren kann, steckt Radewald dem Jungen den kleinen, schwarzen Stab zu. 'Er solle gut darauf aufpassen und kräftig üben', kann der alte Meister eben noch sagen, ehe die Tür sich öffnet und der Vater in die Hütte tritt. Radewald hatte dem Runenmeister schon am Abend zuvor sein Abschied angekündigt. Demgemäß packte er am nächsten Tag seine Sachen zusammen und nach einigen Worten des Dankes brach er wenig später samt Esel und Falke auf. Teutebrand und Rangubald wendeten sich erneut den Arbeiten im Wald zu. Mit dem Bau des Wehres konnten sie jetzt beginnen, denn es war die vergangenen Tage über merklich wärmer geworden, obschon der Teich nach wie vor zugefroren war. Mit ihrer Arbeit kamen sie gut voran, da viele der anderen Dorfbewohner dabei halfen. Später, wenn sie das Wehr öffnen würden, könnten die Baumstämme auf dem Wasserschwall bis zum Teich triften. Die Bewohner Murrtals würden am Rand des Baches stehen und mit langen Stangen dafür sorgen, dass das Langholz sich nicht verklemmen konnte und sich dadurch im Bachbett aufstauen würde. Freilich die Ente würden hierbei sicherlich weit mehr als nur nasse Füße abbekommen. Der Besuch von Friedenreich und des Marktes in Fentovia hatte der Runenmeister an der Ibensul auf den dritten Vollmond nach der Winter-Zeremonie vereinbart. Zwar war das Frühjahr zu dieser Jahreszeit meist bereits deutlich spürbar, aber es würde bestimmt empfindlich kühl werden, sobald die Sonne untergehen würde. Teutebrand hatte deshalb den neuen Pullover an, als sie schlussendlich zu der Reise aufbrachen. Beim Abschied bemerkten die Eltern, dass der Pulli ihrem Sprössling gar nicht schlecht stehen würde. Jeder in Fentovia könnte daran sofort erkennen, woher er stammen würde. Wie die beiden mit dem Esel und dem beladenen Karren dann den Weg durch das Dorf hinuntergingen, stand Brungard oben vor dem Haus. Im Zurückblicken konnte man noch lange sehen, wie sie Teutebrand und Ranguald hinterherwinkte. Die Brunnenwächterin fühlte genau, dass ihr die Trennung von dem Sohn nicht leicht fallen würde. Jedoch wollte sie auch durchaus das Gute an der Sache sehen. Zumal sie das Haus jetzt für sich allein hatte und sie endlich einmal die Zeit dazu finden würde, die Stube richtig durchzufegen.