Kapitel 7 - Das magische Tor Auf dem Weg zurück zu seinem Schlafplatz denkt Teutebrand über das Gespräch mit Radewald nach. Gewiss der Zeremonienmeister hat ihm einen neuen Zaubertrick gezeigt, doch wirkte er auf den Jungen an diesem Abend ungewohnt bedrückt. Ob dies alleine daran gelegen hat, dass er über die Verantwortung eines Zauberkundigen gegenüber seiner Kunst geredet hat, daran zweifelt der Müllergeselle. Auf dem Lagerplatz ist es inzwischen ziemlich ruhig geworden, auch die beiden Schwestern scheinen bereits eingeschlafen zu sein, denn es rührt sich absolut nichts im Zelt nebenan. Der Junge wirft noch einen Blick an den wolkenlosen Himmel, bevor er sich selbst hinlegen möchte. Gleich einer Perlenkette aneinandergereiht, stehen im Süden mehrere helle Sterne über ihm am Firmament. In blassem Rot, in gelben, blauen und weißen Tönen leuchten sie ein kleines Stück unterhalb des spärlichen Lichtes eines schmalen Mondes. Bereits in den vergangenen Tagen während ihrer Wanderung zur Ibensul hatte Teutebrand beobachten können, wie die Sichel des Nachtgestirns jeden Abend etwas dünner geworden war. Eingehüllt in warme Decken schläft der Müllergeselle bald darauf auf seinem Schafsfell ein, um in aller Frühe mit den ersten Sonnenstrahlen wieder zu erwachen. In der Stille des anbrechenden Morgens findet der Junge genügend Muse, damit er sich um den Esel kümmern kann. Gleichzeitig bietet sich jetzt die ideale Gelegenheit, den Lagerplatz und seine Umgebung näher zu erkunden. Im Norden hinter den Zelten zwischen den hier nicht so hohen Felsen entdeckt Teutebrand eine schmale Schlucht, über diese gelangt er zum Weideplatz des Campes. Begrenzt wird die Wiese vom Unterlauf des Baches, sowie einem zum Gewässer hin abfallenden Felsensporn als Ausläufer des Gebirges. Die beiden übrigen Seiten werden von einem dichten Wald umschlossen. Auf der Weide stehen darüber hinaus mehrere andere Esel, dazu einige Ziegen und Schafe, neben einer erheblich größeren Anzahl von Hühnern. Der Graue scheint hier also gut aufgehoben zu sein. Im Camp ist es so geregelt, dass immer zwei oder drei der Jungen dazu bestimmt werden, das Vieh von einem Morgen bis zum Nächsten zu hüten. Brennholz sammeln und schlagen gehört an diesem Tag auch zu ihren Aufgaben, sollte dies denn nötig sein. Für die Hühner ist in der Mitte des Platzes ein Gehege errichtet worden, innerhalb dieses Pferches befindet sich ein kleiner Unterstand. Das Federvieh wird dort nachts eingeschlossen und kann hier ungestört seine Eier legen. Tagsüber dürfen die Hühner frei auf der Wiese laufen, während der Hahn die meiste Zeit auf dem Dach des Unterstandes sitzt. Die Milch der Ziegen und die wenigen Eier reichen natürlich bei Weitem nicht aus, um das ganze Camp zu versorgen. Jedoch kann man jeder Zeit in den Wäldern der Umgebung Beeren, Wurzeln und Pilze sammeln gehen. Zudem kommt manchmal ein Eselskarren aus einem der umliegenden Dörfer in das kleine Lager am Fluss, der Lebensmittel und andere Sachen vorbeibringt. Falls sich Radewald dann gerade im Camp aufhält, ist er normalerweise immer als Erster zur Stelle, wenn der Nachschub an Nahrungsmitteln ankommt. Neugierig erkundigt er sich jedes Mal nach Neuigkeiten aus den Dörfern und Städten. Manchmal sucht der Zeremonienmeister sogar selbst die nächsten Ortschaften auf, um über den Stand der Dinge informiert zu sein. Ebenso oft ist Radewald tagelang alleine im Wald auf der Jagd unterwegs und deshalb im Lager nicht anzutreffen. Anfangs merkt Teutebrand immer sofort, ob sich sein Zauberlehrer im Camp aufhält. Aus Furcht vor dem Falken des alten Meisters flüchtet die Elster bei solchen Situationen zu dem Esel auf die Weide. Mit der Zeit stellt der gefiederte Freund des Jungen jedoch fest, dass er vor dem Raubvogel keine Angst zu haben braucht. Misstrauisch den großen Vogel beobachtend, bleibt er nun mucksmäuschenstill auf der Schulter des Müllergesellen sitzen. Regelmäßig ist Korn oder Mehl bei den geladenen Lebensmitteln zu finden, wenn ein Karren an der Ibensul eintrifft. Aus diesem Grund wird mit der Zustimmung der Seherinnen beschlossen, dass ein Backofen gebaut werden soll. Als Müllergeselle aus Ubil wird Teutebrand natürlich für dieses Vorhaben eingespannt, auch seine Erfahrungen beim Hausbau während seiner Jugend in Ephalu sprechen dafür. Für den Ofen wird zuerst aus biegsamen Weideruten eine Kuppel geformt, darauf werden weitere, dünnere Ruten eingeflochten. Aus einer Grube nahe dem Bach werden große Mengen an Lehm herbeigetragen, die feuchte, formbare Erde sodann in faustgroße Stücke geteilt. Im Anschluss wird auf das Weidegeflecht von beiden Seiten jeweils eine Schicht dieser Klumpen aufgebracht. Geschickt werden an verschiedenen Stellen Öffnungen ausgespart, damit sich die heiße Luft gut im Ofen verteilen kann und der Rauch dennoch leicht abzieht. Wenn der Backofen angeheizt wird, bilden sich später manchmal Risse in den Wänden. Diese sind jedoch einfach auszubessern, indem sie nach dem Abkühlen mit Lehm überstrichen werden. Unten an der Vorderseite des Ofens ist ein Feuerloch vorgesehen, darüber wird ein Zwischenboden bogenförmig eingezogen. Der Boden wird hierauf an der Oberseite mit Lehm derart aufgefüllt, dass eine nahezu plane Fläche entsteht. Als Nächstes wird diese Fläche mit ebenen, robusten Steinplatten belegt, auf denen die Backwaren später gebackenen werden können. Über dem Feuerloch schließt ein schmaler Sims die Backfläche ab. Darüber befindet sich eine enge Öffnung, welche dafür vorgesehen ist, das Brot vor dem Backen hineinlegen zu können. Der befüllte Ofen wird mit einem flachen Stein verschlossen, damit die Hitze nicht so schnell entweicht. Jetzt muss der Schieber hergestellt werden, mit dem das Brot in den Ofen geschoben wird und die fertigen Backwaren aus dem heißen Backofen geholt werden. Dazu wird mit der Axt aus einem geeigneten Baumstamm ein dickeres Brett gehauen und der Brotschieber hierauf aus diesem Holzstück grob ausgearbeitet. Mit einem scharfen Messer wird anschließend die endgültige Form daraus geschnitzt. Am vorderen Ende, auf dem das Brot liegen wird, soll er fast so breit wie die Aussparung zum Bestücken der Backfläche werden. An der anderen Seite, welche als Griff gedacht ist, wird der Brotschieber indessen ziemlich schmal sein. In der Zeit in welcher Teutebrand mit dem Bau des Backofens beschäftigt ist, verfolgt Ferun ihre Idee weiter, die Ibensul neu zu schmücken. Bald stellt sie fest, dass einige der anderen jungen Leute im Lager den gleichen Gedanken gehabt haben. Von daher fällt es ihr nicht schwer Mitstreiter zu finden. Komplizierter gestaltet sich die Sache da schon mit Ortrun. Diese hat eigentlich keine Lust mitzumachen und ist nur schwer zu überzeugen. Schließlich überredet Ferun die Schwester doch noch und dies obwohl sie sich ebenso schlecht vorstellen kann, wie alles vonstattengehen soll. Eigentlich haben sie nicht wirklich viele Dinge für das Schmücken des Baumes zur Verfügung. Entgegen ihrer Erwartungen gestaltet sich alles Weitere überraschend einfach. Aus dem Lager werden einige farbige Decken gebracht, diese werden in schmale Streifen geschnitten und zu langen, bunten Bändern vernäht. Im Wald wird danach ein junger Baum gefällt und an diesem die zusammengenähten Stoffbahnen befestigt. Jetzt greift sich ein drahtiger Bursche den grünen, geschmückten Sprössling und kletterte damit den Stamm der alten Eibe hinauf. Mit eigens dafür vorgesehenen Schnüren befestigt er ihn an der Spitze der Ibensul. Plötzlich scheint sogar Ortrun zum Leben erwacht zu sein. Sie schlägt vor, man könne den Baum zusätzlich mit einem Anstrich versehen. Sogleich stimmen die Anderen dem Vorschlag zu und aus der nahen Lehmgruppe wird ganz feiner Mergel herbeigeschafft. Ein Mädchen aus der Gruppe kennt Kräuter im Wald, mit welchen man das Gemenge einfärben kann, diese sind gleichfalls bald besorgt. Nun wird der Stamm stückweise zuerst in Ocker gestrichen und dann mit blauen Streifen versehen, sodass die bunten Farbstreifen am Ende kerzengerade von der Spitze bis zum Boden verlaufen. Anschließend sitzen die jungen Leute neben dem Baum zusammen und warten darauf, dass der Anstrich trocknet. Dabei albern sie herum und unterhalten sich über die Geschehnisse der letzten Tage im Lager. Als sie gerade von den beiden Leiterinnen des Campes reden, steht eines der Mädchen abrupt auf und beginnt diese nachzumachen. Zwangsläufig landet sie dabei an dem Abend, an dem die Seherinnen ihr Lied vorgetragen haben. Aus dem Gedächtnis heraus versucht das Mädchen die Verse des Liedes zu wiederholen. Allerdings möchte dies nicht so recht klappen, worauf ihr zugleich Ferun zu Hilfe kommt. Gemeinsam sagen die beiden nun die gereimten Verse auf. Erstaunt müssen die restlichen Mitglieder der Gruppe feststellen, dass die kleine Schwester das ganze Lied nahezu auswendig kennt. Offenbar machen die zwei Mädchen ihre Sache richtig gut, denn öfters müssen die Anderen über ihre Imitation der beiden Seherinnen lachen. Nachdem die Mädchen mit ihrem Vortrag fertig sind, stoßen einige der sitzenden Zuhörer laute zustimmende Rufe aus, manche schlagen auch mit den bloßen Händen auf den Boden. Ferun möchte sich gerade zurück in die Runde begeben, da sieht sie Ortrun ein Stück abseits sitzen. Die Laune der Schwester scheint sich sichtlich verbessert zu haben. Neben ihr sitzt der Bursche, der den jungen Baum oben an der Ibensul befestigt hat und die zwei unterhalten sich angeregt. Es dauert noch fast den ganzen Nachmittag bis der Anstrich ausreichend getrocknet ist, um weiterarbeiten zu können. Endlich ist es so weit, ein jeder der Mitstreiter nimmt jetzt alleine oder zusammen mit einem Anderen ein Ende der herabhängenden Bänder in die Hand. In komplizierten Schrittfolgen, welche sehr einem einstudierten Tanz ähnlich sind, umwickeln sie gemeinsam den alten Stamm mit den bunten Girlanden kunstvoll. Im Lager ist ihr Tun nicht unbemerkt geblieben, viele kommen vorbei, um sie für ihre Idee zu loben. Ihre Mitstreiter sind bereits lange gegangen und lediglich Ferun und Ortrun stehen allein zurückgeblieben unter dem alten Baum, da tauchen die beiden Seherinnen auf. Selbst die beiden Frauen aus Kerusci können nicht umhin, das Ergebnis ihrer Bemühungen mit einigen wohlwollenden Worten zur Kenntnis zu nehmen. 'Die Ibensul dieses Symbol für die Eintracht des Alten Volkes habe nun endlich wieder ein würdiges Aussehen erhalten, das ihrer besonderen Bedeutung entspräche', erklärt eine der beiden Frauen in einem feierlichen Ton. Ruhig vergehen die folgenden Tage, das Leben im Lager beginnt eine gewisse Routine zu bekommen. Der Backofen wird in Betrieb genommen, er funktioniert recht gut. Der sonstige Küchendienst für das Zubereiten der Mahlzeiten beansprucht ebenfalls einiges an Zeit. Ansonsten geht es im Sommercamp recht idyllisch und beschaulich zu. Man vertreibt sich die Tage mit schwimmen gehen im Bach oder mit Fische fangen am Wasser. Andere streifen gerne durch die Wälder, sammeln dort einige nützliche und notwendige Sachen. Abends an den Feuern wird gern gewürfelt oder es werden andere Dinge unternommen. Vor allem ein Spiel ist dabei beliebt, bei welchem mit möglichst runden Steinen nach einem kleineren geworfen wird. Zwei Gruppen versuchen hierbei die eigenen Kugeln so zu werfen, dass diese näher an dem kleinen Stein liegen bleiben, als dies dem Gegner gelingt. An den Lagerfeuern findet gerne manche sangesfreudige Schar zusammen, um eine der vielen aus früheren Zeiten überbrachten Weisen der Stämme anzustimmen. Die Lieder handeln stets vom Glanz der Dörfer, der Pracht der Städte und der Lieblichkeit oder der Rauheit der Landschaften der Heimat. Mindestens genauso oft wird in ihnen von dem Stolz und der Schönheit der Frauen, der Kühnheit der Männer und den Ruhmestaten der eigenen Väter und Vorväter erzählt. Ein Vortrag der Seherinnen gleich dem ersten Abend im Camp bleibt dagegen die absolute Ausnahme. Viele Freundschaften werden im Camp zwischen den Jugendlichen geschlossen, dies geht gleichermaßen Ferun, Ortrun und Teutebrand nicht groß anders in dieser Zeit. Da sie jedoch eh meist zu dritt unterwegs sind, bleibt es bei ihnen meist bei losen Bekanntschaften. Sie sind genügend mit sich selbst beschäftigt und auf dieses Kennenlernen nicht so sehr angewiesen. Ein friedliches Lagerleben entwickelt sich in diesen sorglosen Tagen, fast konnte man meinen, der Grund für ihr Hiersein sei schon vergessen. Wenig ändert sich hieran, als Radewald wieder auftaucht, nachdem er für einige Tage abwesend war. Anderseits als der Zeremonienmeister dem Jungen zufällig über den Weg läuft und Teutebrand mit ihm ein ziemlich belangloses Gespräch anfangen möchte, weist ihn der alte Mann mit wenigen Worten brüsk ab. Der Müllergeselle wird durch diesen Vorfall in seiner Beobachtung bestätigt, dass der betagte Meister von viel wichtigeren Sorgen und Nöten geplagt wird. Vollkommen entgegen seiner eigentlichen Gewohnheit nimmt Radewald in den nächsten Tagen abwechselnd ein Teil der Jungen und Mädchen mit auf die Jagd. Diese Jagdzüge durch die Wälder der Umgebung dauern oft bis spät in die Nacht, bevor die Gruppe mit ihrer Beute ins Camp zurückkehrt. An den Lagerfeuern wird das zur Strecke gebrachte Wild meist gleich am nächsten Abend zusammen verspeist. Am Tag vor dem Vollmond werden gleichfalls die drei Gefährten vom Zeremonienmeister aufgefordert an einer der Jagden teilzunehmen. Allerdings möchte Ferun nicht mitkommen. 'Sicher auch sie würde gerne zum Abendessen einen Hirsch oder Hasen am Feuer braten und verspeisen', erklärt die kleine Schwester. 'Doch müsse nicht unbedingt sie selbst diejenige sein, welches das Tier im Wald erlegt. Manch einer der Anderen entwickele dafür mehr Geschick und dieses Talent würde sie ihnen gewiss nicht neiden.' 'Darüber hinaus habe sie schon vor Längerem für diesen Tag mit zwei der anderen Mädchen einen gemeinsam Besuch bei den Seherinnen geplant', ergänzt die kleine Schwester. 'Die beiden Frauen aus Kerusci wollten mit ihnen heute nochmals über das Lied sprechen, das sie vor Kurzem vorgetragen haben.' Aus diesem Grund sind es nur Ortrun und Teutebrand, welche sich mit Radewald und einigen weiteren Jugendlichen gegen Mittag für den Aufbruch in den Wald vorbereiten. Je ein halbes dutzend Bögen und Wurfspeere werden vom Zeremonienmeister unter den jungen Leuten verteilt. Wie zu erwarten gewesen ist, nimmt Ortrun sofort einen Bogen für sich in Anspruch, während sich Teutebrand mit einem Speer zufrieden gibt. Zwar findet der Junge, dass die Wurfwaffe besser zum Fischen als für die Pirsch geeignet ist, dennoch scheint ihn dieser Umstand nicht weiter zu stören. Der kräftige Holzstab kann im Wald, im dichten Gestrüpp oder im unwegsamen Gebirge als Wanderstock überaus nützlich sein. Auf den Jagdausflug hatte sich der Müllergeselle im Vorfeld durchaus gefreut, die euphorische Stimmung der Anderen färbt anfangs deshalb gleichfalls auf seine eigene Laune ab. Hingegen scheint die Elster an diesem Tag nicht besonders gut aufgelegt zu sein. Immer wenn Teutebrand in die Nähe von Radewald kommt, versucht der Vogel auf seiner Schulter aufgebracht nach dem Falken zu picken, regelrecht zu hacken. Für den Jungen ist dieses Verhalten seines gefiederten Freundes mehr als ungewöhnlich, selbst wenn der Raubvogel den unbedachten Attacken kaum Beachtung schenkt. Trotzdem beschließt der Müllergeselle lieber gemeinsam mit Ortrun am Ende der Reihe der Jäger zu gehen. Kaum dass die Jagdgesellschaft den Wald erreicht hat, dauert es nicht lange, bis sie eine Gruppe äsender Rehe auf einer Lichtung entdecken. Mit der Hand gibt Radewald dem Rest der Jagdgesellschaft die Anweisung, sich am Rande der kleinen Wiese im Unterholz zu verteilen. Dabei müssen sie sich möglichst still verhalten, damit die scheuen Tiere sie im Gestrüpp nicht bemerken. In ihrer Deckung verharren die Jäger anschließend geduldig darauf, die Bögen spannen zu können, sobald ihre Beute in Schussweite kommt. Einige Augenblicke später ist es endlich soweit, fast scheint es, als wollten sich die Tiere gleich auf die versteckten, lauernden Bogenschützen zubewegen. Völlig unvermutet stößt in diesem Augenblick die Elster ihren Warnruf aus. Argwöhnisch schauen sich die Rehe um, spähen alarmiert in alle Richtungen und entdecken offenbar einige der Jäger hinter den Büschen. Mit einem Male schreckt die ganze Herde auf und die sicher geglaubte Beute entkommt mit gewagten Sprüngen in das Dickicht des dunklen Waldes. Dem Müllergesellen ist freilich sofort klar, wodurch die Rehe aufgescheucht wurden. Die Mitstreiter des Jungen rätseln dagegen, wieso die Tiere so urplötzlich geflüchtet sind. Den gesamten Nachmittag über wiederholt sich die gleiche Szene mehrmals. Egal ob die Jäger auf eine Rotte Schwarzkittel treffen, ein mächtiger Rothirsch ihre Bahn kreuzt, oder auch nur ein paar Feldhasen in der Sonne vor ihrem Bau herumtollen. Sobald einer der Waidmänner seinen Bogen bereitmacht oder mit der Waffe auf seine Beute anlegt, ist das schnelle Klicken des Vogels zu hören. Ansonsten sitzt die Elster zwar die ganzen Zeit unauffällig auf der Schulter des Jungen, ohne sich groß zu rühren, geschweige denn einen Laut von sich zu geben. Trotzdem bemerken die Anderen nach und nach, dass der Vogel der Störenfried ist, welcher das Wild immer wieder warnt und vertreibt. Bevor es anfängt allmählich dunkel zu werden, die Abenddämmerung beginnt, was allgemein als beste Zeit für die Jagd gilt, kommt der Zeremonienmeister auf den Jungen zu. Beim Anblick des alten Mannes, der den Falken auf seiner linken Hand trägt, zieht der gefiederte Freund Teutebrands sofort den Kopf ein und versteckt sich unter der Dachsmütze des Müllergesellen. 'Er solle sich besser auf den Heimweg zum Camp machen', fordert der Zeremonienmeister den Jungen auf, ohne dass man irgendeine Art von Groll in seine Stimme hineindeuten könnte. 'Die Zurückgebliebenen würden schließlich darauf vertrauen, dass auch morgen an den Feuern etwas zum Braten vorhanden sei. So wie es im Moment jedoch aussähe, seine Elster wirklich jedes wilde Tier im Wald verjage, würde die ganze Gruppe indessen zweifellos ohne Beute heimkommen. Es sei von daher für sie alle besser, wenn die Jagd ohne ihn fortgesetzt werde. Sicherlich würde Teutebrand dies verstehen.' Den Müllergesellen stört sein Ausschluss aus der Gruppe der Jäger an sich wenig, um ehrlich zu sein, ist dies Teutebrand gar nicht so unrecht. Von jeher hatte er mehr Freude daran empfunden, Tiere zu beobachten, als sie zu jagen. Aus diesem Grund erklärt er, auf zukünftige Jagdausflüge lieber verzichten zu wollen. Umgehend bricht er danach auf, um sich auf den Rückweg zum Camp zu machen. Ortrun dagegen bleibt bei den Jägern zurück und ist ebenso in den nächsten Tagen regelmäßig dabei, wenn Radewald in den Wald aufbricht. Dies mag nicht so sehr daran liegen, dass sie Erfahrungen bei der Jagd sammeln möchte. Wahrscheinlicher ist die Ursache dafür, dass der Jungen, den die große Schwester beim Schmücken der Ibensul kennengelernt hat, inzwischen ebenfalls regelmäßig der Jagdgruppe angehört. Gleich einigen der anderen Jugendlichen verbringen die Gefährten einen der folgenden Nachmittage gemeinsam am nahen Bach. Da sie schwimmen gehen wollen, haben die Schwestern ein eigens dafür vorgesehenes Kleid aus ihren Sachen herausgekramt. Die Badebekleidung besitzt keine Ärmel und ebenso ist der Rock ziemlich kurz geraten. Der Junge hat für diese Gelegenheit tatsächlich einmal seine Mütze und den Pulli mit den auffälligen Mustern ausgezogen. Nur mit der Hose bekleidet, planscht er ausgelassen mit den beiden Mädchen im Wasser herum. Ferun und Teutebrand sind die meiste Zeit damit beschäftigt sich gegenseitig zu ärgern und fangen in ihrem Übermut sogar das Zaubern an. Die kleine Schwester lässt zuerst eine große Welle über dem Jungen zusammenbrechen und im Gegenzug verwandelt Teutebrand eine vorüberschwimmende Ente in einen großen hässlichen Vogel. Von diesen Zauberkunststücken bemerken die restlichen Kinder glücklicherweise nichts, die große Schwester hat es jedoch mitbekommen. Das Mädchen ist ziemlich verblüfft darüber und kennt jetzt also das Geheimnis der beiden. Andererseits macht sie sich nicht allzu viele Gedanken über diesen zugegebenermaßen ungewöhnlichen Umstand. Schon immer hatte Ortrun gedacht, mit ihrer kleinen Schwester könne irgendetwas nicht so recht stimmen. Gewiss ist dies nicht besser geworden, seit der Lehrling zu ihnen in die Wassermühle gekommen ist, auch davon ist das Mädchen in der letzten Zeit ausgegangen. Zaubern zu können erscheint ihr ebenso wenig etwas absolut Besonderes zu sein, wer hatte schließlich nicht bereits davon gehört. Gleichwohl sind die zwei offenbar die Einzigen im Sommercamp, welche diese Fähigkeit besitzen. Dass der Zeremonienmeister ebenfalls ein mächtiger Zauberer ist, kann die ältere der beiden Geschwister ja nicht wissen. Nachdem Teutebrand mit den Jagdausflüge in die Wälder wohl endgültig abgeschlossen hat, verfügt er nun endlich erneut über genügend Zeit, um gemeinsam mit der Elster lange Spaziergänge zu unternehmen. Gerade wie es einst in Murrtal oder später in Fentovia als Geselle von Friedenreich der Fall war, sind ihm die Wiesen, Täler und Hügel der Umgebung bald recht gut bekannt. Stets gibt es auf seinen Streifzügen Neues zu entdecken, sodass hierbei kaum Langweile aufkommen kann. Sowieso ist es jetzt im Sommer viel angenehmer im Schatten eines großen Baumes zu sitzen, als sich den ganzen Tag auf dem Platz bei der Ibensul in der Sonne aufzuhalten. An manchen Tagen begleitet Ferun den Jungen auf seinen Ausflügen. Oft verharren die beiden lange an ein und der selben Stelle oder sie beobachten aufmerksam die Tiere der Wälder und Auen aus einem Versteck heraus. Rehe, Hasen und Füchse bekommen sie dabei stets zu sehen. Das Klopfen der Spechte, der Schrei des Waldkauzes und der Ruf des Kuckucks sind ihnen bald so vertraut, wie das Gackern der Hühner auf der Viehweide. Etliche heiße, sonnige Sommertage lassen das Leben im Camp einen ruhigen, geregelten und friedlichen Gang gehen. Kurze Regenfälle zwischendurch bringen ein bisschen Abkühlung, anderseits führen die vereinzelten Schauern nicht dazu, dass Verdruss unter den Jugendlichen aufkommt. Eines Abends halten die Seherinnen nach dem Essen erneut einen Vortrag. Das zweite Lied der Seherinnen Wohl bestellt sei Hof und Land, Jahr beständig geht ein und aus, sich froh und glücklich wähnt, wenn dies ein Leben währt. Wer sehnte nicht den frohen Sommertag, am Abend die Fruchtbarkeit des Regens, hofft doch ein jeder, das Donner und Blitz das eigene Hause schont. Erinnert euch einmal, wie es einst gewesen, der Wald gar Heimat bot, uns Schutz gab und auch Nahrung. Das Leben mit den Bäumen, gleich Hirsch und Reh, Bär und Wolf, eben jenen die mehr Kamerad als Freund oder Feind dem Menschen waren. Auch diese fragen sich da wohl, ob Morgen dann die Sonne scheint, der Fuchs im Bau vermisst den Herbst, gegen Süden der Vogel vermeint zu ziehen. Vor dem Wolf flieht das Reh, sogar wenn er flach am Boden liegen, entkräftet von der vorherigen Jagd unachtsam wurde er vom Bär erschlagen. Behaupten tut wohl keiner, der Wolf sei dem Reh erlegen, die ganze Herde äst friedlich jetzt unter den Ästen anderer Birken. Das eigene Haus es brennt, der Feind belagert die Ruinen, wird ihn wer beweinen, wenn er dort des Hungers stirbt. Schnell gekommen ist der Winter, kaum einer weiß was war gewesen, die leuchtenden Sterne künden noch vom letzten Jahr den vergangenen Tagen. Ruhig erscheinen obgleich sie wüten, die Himmelshunde tun auf ewig, an des Jägers Ketten zerren, ihn in sein Unglück rein zu reißen. Wecken den großen Bären auf, das Untier wendet grimmig sich, die Flucht scheinbar ergreift, indes selbst das Rudel Wölfe scheucht. Allein der Rabe stumm verharrt, stiller Zeuge des Spektakels, er gern aus seines Meisters Becher nippt, ungesehen für kurzen Augenblick. In der selben Nacht hat Ferun einen ungewöhnlichen Traum. Im Schlaf sieht sie das Bild von einem seltsamen Tier. Das ihr unbekannte Wesen sitzt vor einer aufgehenden riesigen, tiefroten Sonne und singt in einem fort dasselbe monotone Lied. Genau wie alle Anderen dies tun, träumt die kleine Schwester des Öfteren. Dessen ungeachtet lassen sich ihre üblichen Träume überhaupt nicht dem vergleichen, was sie dieses Mal im Schlaf erlebt hat. Die beunruhigenden Bilder der Nacht verfolgen das Mädchen noch lange nach dem Aufwachen. Sie versucht deshalb die Figur aus Lehm zu formen, nur um das Wesen aus ihren Träumen ganz konkret zum Anfassen vor sich stehen zu haben. Das Tier hat einen länglichen Körper mit zwei Paar Beinen die seitlich weit ausstehen, einen langen Schwanz und einen überproportional großen Kopf. Von den Ohren bis zur Schwanzspitze verläuft eine nach oben abstehende Hautfalte mit vielen Zacken. Beim Kneten und Formen des Lehmes erinnert sich Ferun daran, wie oft ihr die Leute schon erzählt haben, dass sie sowohl in ihrem Aussehen, ihrem Verhalten, desgleichen in ihrem Talent Kunrada der Mutter unheimlich ähnlich sei. An dem Gerede der Leute musste wohl etwas Wahres dran sein, angesichts der überaus speziellen, imposanten Figur welche nun vor ihr auf dem Tisch steht. Trotz all ihrer Bemühungen den Traum zu vergessen, lässt dieser das Mädchen den ganzen Tag über nicht in Ruhe. Sie zeigt die Figur erst Ortrun, später überdies Teutebrand, beide nehmen sie indessen nicht besonders ernst. 'Das Tier sähe in höchstem Maße befremdlich aus, sei ihr gleichwohl ganz gut gelungen.' Mit nahezu den gleichen Worten versuchen beide ihre Kameradin zu trösten und aufzumuntern. Gegen Abend entschließt sich die jüngere Schwester nichtsdestoweniger mit den beiden Seherinnen zu reden, da sie ihnen ebenfalls die Tonfigur zeigen möchte. Die beiden Frauen aus Kerusci reagieren überrascht auf die Geschichte, die das Mädchens von ihrem Traum erzählt. Lange sehen sich die zwei lediglich gegenseitig an, tauschen dabei gleichwohl geheimnisvolle Blicke aus. Ferun wird allmählich unsicher, meint die Leiterinnen des Campes würden sie gewiss gleich wieder fortschicken, weil diese ihr Anliegen nicht ernst nehmen würden. 'Ein Drache sei die Figur, von der sie geträumt habe', richtet in diesem Augenblick die Seherin mit den roten Haaren bedächtig das Wort an sie. 'Schon seit vielen Sonnen und Monden sei kein solches Tier mehr gesehen worden. Sicher früher, viel früher, lange vor den Zeiten eines Ulfiss oder Knadaroek, hätte das Alte Volk in Eintracht mit diesen Wesen zusammengelebt. Nur einige ihrer frühsten, nahezu vergessenen Mythen und Lieder würden heute noch davon künden.' 'Andererseits dürfe man diese althergebrachten Überlieferungen des Alten Volkes nicht mit den Geschichten über Drachen verwechseln, welche man mancherorts den Kindern gerne erzählt. Von daher sei es äußerst ungewöhnlich, dass ein ganz normales Mädchen von diesen Dingen wisse. Möglicherweise würde Ferun eine besondere Gabe besitzen und diese Fähigkeit würde 'Sehen' genannt. In ihrer Jugend hätten sie selbst gleichermaßen diese Begabung einer Seherin bei sich entdeckt. Das 'Sehen' bedeute, sie könne Ereignisse wahrnehmen, im Traum, in Trance oder wie auch immer, welche vor langer Zeit geschehen seien, oder vielleicht erst in der Zukunft sich ereignen werden.' 'Normale Leute, welche dieses Talent nicht besitzen, würden sie kaum verstehen können. Dies mache es dem Besitzer ungemein schwer, mit seiner besonderen Begabung umzugehen. Man selbst würde nur mit viel Mühe und einem erheblichen Aufwand an Zeit die nötige Erfahrung sammeln, um zu wissen, was die 'Gesehenen Dinge' bedeuten. Einen anderen Ratschlag, als abzuwarten und mit wachen Augen durch das Leben zu schreiten, könnten sie Ferun im Moment nicht geben. Es gelte die weitere Entwicklung in dieser Angelegenheit zu beobachten, dann könnte vielleicht die Zukunft befriedigende Antworten auf die drängenden Fragen des Mädchens liefern.' 'Ihre üblichen Geschäften würden sie rufen und sie würden sich diesen gerne zuwenden, Ferun sei ein anderes Mal jederzeit willkommen', schließen die alten Frauen das Gespräch ab. Die Ausführungen der Seherinnen haben das Mädchen ein bisschen beruhigen können, dennoch bleibt die kleine Schwester ratlos zurück. Sie solle gleichfalls eine dieser Frauen mit solch einer ungewöhnlichen Fähigkeit sein. Der Gedanke schmeichelt ihr, obwohl sie sich zugleich ernsthaft selber fragt, was dies alles bedeuten könnte. Während sie die Tonfigur in ihren Beutel steckt, beschließt Ferun, vorerst nicht mehr über die ganze Sache nachdenken zu wollen und gegebenenfalls abermals die alten Frauen aufzusuchen. Das aufregendste Ereignis der folgenden Tagen stellt der Morgen dar, an dem eine kleinere Gruppe Jäger mit Radewald in die Wälder aufbricht. Das Besondere daran ist, dass niemand genau weiß oder zuvor gesagt bekommen hat, wohin die Jagdgesellschaft beabsichtigt zu gehen. Selbst Ortrun und ihr neuer Freund der Junge von der Ibensul können keine Auskunft über den überraschenden Aufbruch geben, obwohl beide eigentlich auf jeder der letzten Jagden mit dabei gewesen sind. Da die Jäger weder am nächsten Morgen noch den nächsten Tagen ins Camp zurückkehren, wird allgemein gerätselt, was geschehen sein mag. Wirkliche Sorgen macht sich trotzdem kaum einer, der Zeremonienmeister wurde von vielen als rechter Geheimniskrämer angesehen. Ein manches Mal wusste man nicht, wo er gerade steckte oder was er sich als Nächstes vorgenommen hat. In gleicher Weise würde Radewald bestimmt wissen, was im Moment das Richtige wäre, das zu tun ist. Ebenso wenig ist dies für Teutebrand ein Grund, der ihn von seinen Streifzügen durch den Wald abhalten könnte. Selten nur weicht die Elster hierbei von seiner Seite. Mehr noch zeigt sich der gefiederte Freund regelrecht verliebt, da er nun nahezu die ungeteilte Aufmerksamkeit des Jungen für sich alleine hat. Ständig knabbert das Tier am Ohr des Müllergesellen und flattert unaufhörlich um dessen Kopf herum. Ortrun hingegen schließt sich bei dieser Gelegenheit abermals vermehrt Ferun und den Anderen an, welche die Ibensul geschmückt haben. Inzwischen sind die Mitglieder dieses ausgewählten Kreises der Idee verfallen, die Lieder der Seherinnen als Theaterstücke aufführen zu wollen. Dieser Gedanke ist schon alleine dem Umstand entsprungen, dass ihre Gruppe aus mehr als einer handvoll Leute besteht, die Frauen aus Kerusci indessen ihre Lieder stets zu zweit vortragen. Die Rolle der Vorträgerinnen des Liedes sind von vorneherein an Ferun und das andere Mädchen vergeben, jenes welches mit der Imitation der Seherinnen begonnen hat. Gewiss möchte dies den beiden niemand streitig machen. Allerdings bleibt für die restlichen Jugendlichen in der ausgelassenen Truppe deshalb nur der Part übrig, den Vortrag mit tänzerischen und pantomimischen Einlagen zu untermalen. Hierdurch kommt es naturgemäß zu einigen Reibereien und Auseinandersetzungen bei der Rollenbesetzung. Beispielweise möchte Ortrun absolut nicht einsehen, wieso gerade sie ein Reh spielen soll. 'Sie wäre weder scheu noch gebrechlich, noch nicht einmal übermäßig schlank.' Die Versuche sie zu überreden, sowie alle sonstigen Bemühungen sie zu überzeugen, scheitern an diesem Standpunkt des Mädchens. 'Wenn die Anderen das Ganze unbedingt zur Lachnummer verkommen lassen wollten, sollten sie das ruhig machen, dies dann aber gewiss ohne ihrem Mittun', gibt die große Schwester des Weiteren zu bedenken. Selbstverständlich findet sich für dieses Problem eine Lösung und das Einstudieren ihres Theaterstückes kommt im Allgemeinen ganz gut voran. Den Seherinnen, welchen die Unternehmungen der Gruppe nicht entgangen sind, zeigen eine deutlich kritischere Einstellung gegenüber den Bemühungen von Ferun und ihren Mitstreiter. Eines Tages erscheinen die beiden Frauen überraschenden bei den Proben. 'Der klassische Vortrag wäre die überlieferte Weise zum Darstellen der Traditionen und Mythen des Alten Volkes', äußern sie ihren Unmut. 'Jedes Wort der Lieder habe seine eigene überlieferte Bedeutung und von daher einen tieferen Sinn. Auch und gerade deshalb hätten die Lieder über hunderte von Jahren bestehen und weitergetragen werden können.' Infolge der kommenden Geschehnisse erübrigten sich alle weiteren Streitgespräche hierüber gleichwohl. Die zu diesem Zeitpunkt kaum vorhersehbaren Ereignisse sorgten dafür, dass das Treffen gleichzeitig die vorläufig letzte Zusammenkunft des Theaterkreises an der Ibensul war. Einer dieser Gründe ist die Rückkehr der Jäger, nachdem die Gruppe über eine Woche aus dem Lager verschwunden war. Eines Tages gegen Mittag tauchen sie aus dem nahezu endlosen Meer aus Bäumen im Westen auf, kommen über die Furt im Bach zurück zum Camp marschiert. Ein einziges Reh haben die sechs Jugendlichen und der Zeremonienmeister von ihrem Jagdausflug mitgebracht. Die Anstrengung der letzten Woche sind ihnen derweilen deutlich anzusehen. Abgehetzt und mitgenommen sehen sie alle aus, teils sind ihnen die Wangen eingefallen und die Kleidung zerrissen. Bei seiner Rückkehr spricht Radewald mit keinem auch nur ein einziges Wort. Umgehend verschwindet der alte Meister in seinem Zelt, obgleich die Sonne hoch am Himmel steht. Von den übrigen Jägern kennt Teutebrand lediglich einen Jungen ein bisschen besser. Ihre Bekanntschaft hatte sich daraus ergeben, dass dieser ebenfalls der Sohn eines Runenmeisters ist, genauer gesagt jenem aus Feuchtau. Am nächsten Morgen trifft der Müllergeselle diesen zufällig unten am Fluss beim Schwimmen. 'Wie es den gewesen sei die letzten Tage, im Lager habe man sie vermisst?', fragt er den Jungen ganz beiläufig. 'Die Jagd sie ist eine aufregende Sache, und die Wälder vor allem die Wälder der Heimat zu sehen, sei manche Anstrengung wert', antwortet ihm der Sohn des Runenmeisters aus Feuchtau. 'Doch sicher komme es bei der Pirsch ebenso stets auf die Beute an. Ein besonderes Wild wäre es gewesen und schwer sei es zu erlegen.' Kaum beginnt der jugendliche Waidmann von der Jagd zu erzählen, da fangen seine feuchten, geröteten Augen bereits zu glänzen an, während sein Blick zusehend fahriger wird. Fast macht es den Anschein, der andere Junge habe ein heftiges Fieber von dem aufreibenden Ausflug mitgebracht. Gegen Ende ihres Gespräches macht sich Teutebrand ernsthafte Sorgen um die Gesundheit seines Gegenübers. Mehr über die Gründe der langen Abwesenheit der Jäger kann der Müllergeselle allerdings im Moment nicht in Erfahrung bringen. Auf weitere Fragen weicht ihm der andere Junge beharrlich aus, verhält sich überhaupt sehr abweisend. 'Ob er von der vergangenen Woche nicht reden wolle, oder es gar nicht dürfe?', unternimmt Teutebrand einen letzten Versuch. Einen Antwort bleibt ihm der Sohn des Runenmeisters aus Feuchtau freilich schuldig, stattdessen dreht sich sein Gesprächspartner einfach um und begibt sich hinauf zum Lagerplatz. Der weitaus wichtigere Grund für die Auflösung der Theatergruppe ereignet sich, als die Gefährten am nächsten Tag gemeinsam zum Hüten des Viehes eingeteilt werden. Friedlich grasen Schafe, Ziegen und die Esel den Morgen über auf der Weide, lediglich die Hühner gackern unaufhörlich wild durcheinander und rennen kopflos auf der ganzen Wiese hin und her. Selbst Holz ist im Lager genügend vorhanden, sodass die Freunde beschließen, am Nachmittag im Wald Heidelbeeren sammeln zu gehen. Ferun hatte dies vorgeschlagen, sie möchte am nächsten Tag im Camp kleine Blaubeerbrötchen backen. Einen der beiden Körbe, welche sie vom Weideplatz mitgebracht haben, ist fast bis zum Rand mit den süßlichen, blauen Beeren gefüllt, da stoßen sie etwas tiefer im Wald auf einen versteckten Tümpel. In dem abgelegenen Weiher zwischen den Bäumen treiben Unmengen von Laich im trüben Wasser und an jeder erdenklichen, nur halbwegs trockenen Stelle sitzen Frösche, die laut vor sich hin quaken. Auf den flachen, sandigen Abschnitten des Ufers liegt eine nicht zu überschauende Anzahl an Salamandern und Molchen beinahe regungslos in der Sonne. Plötzlich, als hätte jemand das Zeichen dafür gegeben, kommt Bewegung in das eigentlich ruhig erscheinende Strandleben und die Tiere huschen alle auf einmal ins Wasser. Unsere Abenteurer wundern sich sehr über die unvermutete Aufregung rund um den Teich. Kurz darauf hat sich das Gewusel auch schon wieder gelegt und die Freunde bemerken im Gras am Ufer eine helle Schlange mit dunklen Streifen. Eine am Boden jagende Ringelnatter liegt dort, offensichtlich ist sie ganz alleine zurückgeblieben. Das auf seinem Bauch kriechende Tier hält in seinem Maul das Schwanzstück eines der Lurche, das Opfer selbst konnte wohl entkommen. Lange halten es die Gefährten ebenfalls nicht mehr an dem Gewässer aus, denn an manchen Stellen ist die Luft von zahlreichen Stechmücken vollkommen schwarz gefärbt. Ganz Schwärme andere Insekten schwirren ebenso umher und vertreiben schließlich die Abenteurer. Diese begeben sich stattdessen zurück in den Wald, da sie den zweiten Korb gleichermaßen mit Heidelbeeren füllen wollen. Dann hören die Freunde mit einem Male die Elster Alarm schlagen. Immer und immer wieder sind ihre klickartigen Rufe zu vernehmen. Besorgt brechen die drei zum Weideplatz auf, von woher das Geschrei scheinbar stammt. Bis auf die Hühner ist auf der Wiese mit dem Vieh alles ruhig und friedlich. Auf den ersten Blick ist dort, weder ihr gefiederter Freund selbst, noch eine Ursache für dessen eindringlichen Warnrufe auszumachen. Schließlich erspähen sie den Vogel. Er sitzt am Waldrand in einem dichten Gebüsch, weshalb ihn die Gefährten nicht sofort entdecken konnten. Gleich neben ihrem gefiederten Freund blinkt im Unterholz des Gestrüppes etwas hell in der Sonne. Am Waldrand angekommen finden Abenteurer ein Stück geschmiedetes Eisen am Boden. Offensichtlich ist dieses der Grund, wieso die Elster solch einen Krach macht. Sogleich bückt sich Ortrun, damit sie den Gegenstand aufheben kann. Den beiden Anderen verschlägt es beinahe die Sprache, denn nun steht die große Schwester tatsächlich mit einem Schwert in der Hand vor ihnen. Viele Fragen drängen sich den Freunden mit einem Male auf. Wie die Waffe auf die Weide gelangt ist oder was sie damit anfangen sollen, darauf finden sie so geschwind keine Antwort. Von daher beschließen die drei, das Schwert am nächsten Morgen mit zurück in das Lager an der Ibensul zu nehmen, um es den beiden Frauen aus Kerusci zu zeigen und ihren Rat dazu einzuholen. Am nächsten Tag besucht Ferun in Begleitung ihrer beiden Gefährten ein weiteres Mal die Seherinnen. Zuerst schienen diese über ihr Erscheinen indes wenig begeistert zu sein. Erneut werfen sich die Frauen aus Kerusci gegenseitig diese vielsagende Blicke zu, welche bei der kleinen Schwester den Eindruck erwecken, dass sie den beiden eigentlich eher lästig und nicht sehr willkommen sind. Ohne sich einschüchtern zu lassen, übergibt Ortrun das mitgebrachte Schwert an die alte Frau mit den roten Harren. Die Seherin nimmt die Waffe in die Hand, mustert sie einige Zeit und erschrickt dabei merklich. 'Wo sie das Schwert her hätten?', fragt die Frau umgehend bei Ortrun nach. 'Sie solle ihr erzählen, wie sie das Schwert gefunden haben', fordert sie anschließend die große Schwester auf. Geduldig hören sich die Seherinnen darauf die Schilderung des gestrigen Nachmittags des Mädchens an. Mit der Waffe in der Hand und sichtlich erregt, wendet sich sodann die eine Seherin der anderen zu, damit diese das Schwert ebenfalls begutachten kann. Die beiden Frauen stecken nun ihre Köpfen zusammen und tuscheln einige Zeit aufgeregt miteinander. Ungeachtet dessen wie angestrengt die Freunde derweil lauschen, sie können von dem Gesagten gleichwohl kein Wort verstehen. 'Die drei müssten sie entschuldigen, falls sie bisher ein wenig unfreundlich gewirkt haben', richtet die Schwarzhaarige der beiden Frauen das Wort an die Gefährten. 'Bei so einer großen Anzahl von Jugendlichen, fast noch Kindern, würden sie einfach davon ausgehen, dass vieles ein bisschen fragwürdig sei, das sie von den Jungen erzählt bekommen.' 'Die Waffe jedoch, welche die drei ihnen gebracht hätten, sei eindeutig etwas vollkommen Anderes. Mit aller Bestimmtheit und ohne jeden Zweifel könne sie sagen, dass es sich um das Schwert Balmung handele. Selbst wenn sie diese mystische Waffe zuvor nie gesehen habe, hätte sie immerhin Einiges von dem gehört, was über es erzählt werde. Viele der Geschichten würden ursprünglich aus uralten geheimnisumwitterten Überlieferungen stammen, aus Liedern deren Herkunft meist genauso zweifelhaft sei, wie die des Schwertes selbst. Ohne hier jemals eine konkrete Antwort gefunden zu haben, würden sich die beiden Seherinnen nun schon das halbe Leben mit diesen Quellen beschäftigen.' 'Soweit sich mit Gewissheit sagen lässt, wurde das Schwert offenbar einst nur geschaffen, um dem Alten Volk Unheil zu bringen. Jedoch kann dieses Unglück abgewendet werden, wenn die Waffe rechtzeitig zurück in das Schattenland gebracht wird. Dies zumindest erzähle ihrer Meinung nach die Legende von Umbrosia. Gerne würde sie den dreien dieses kaum verständliche Lied vortragen. Was dann aber zu tun sei, müssten die Freunde selber entscheiden. Als Seherinnen würden sie zwar von vielen Dingen wissen und erzählen können, das daraus resultierende Handeln sei freilich nicht ihr Metier. Im selben Moment indem sie das Schwert gefunden hätten, wären in diesem Falle wohl die Gefährten vom Schicksal dazu bestimmt worden, dieses zurück in das Schattenland zu bringen.' Das dritte Lied der Seherinnen. Umbrosia ein Ort der Magie, uns manche Prüfung stellt, im verborgenen Schatten liegt, jener verbotene Platz voller Gefahr. Nichts das dort einst entstanden, gehört in eines Menschen Hand, reines Herz kümmert sich, reuelos bringt zurück woher gekommen ist. Hinunter führt das nahe Tor, in die Düsternis, der Toten Reich, Runen von Blut durchdrungen, werden den Weg dir weisen. Die Sonne kann hier nicht scheinen, noch der Schimmer des Nachtgestirns, sobald das dornige Gatter überwunden, gar mächtige Wesen auf dich warten. Übel, Unheil einer kaum sah, der Mensch irrt umher verloren, grässlich Geister Hirngespinst ist es, Wirklichkeit wahnhaften Wesens. Der kalte Tod allein, wird als Kamerad genannt, ohne Zagen drum voran, kein Zaudern auf dem Pfad ins Schattenland. Weder dunkel noch hell, jene heuchlerische Welt, dein Ziel du nun magst nahe wähnen, doch nicht nur da irrt man sich. Weiß will es dir scheinen, aber schwarz wird es genannt, manch tröstend gesprochen freundlich Wort, will helfend in den Tod geleiten. Deshalb was du treffen wirst, stets sollst du daran denken, ist platte Lüge, bloßer Trug, ist plumpe Zauberei von anderen Mächten. Bald liegt klar vor dir das Erstrebte, dann wieder in nicht erreichbar Ferne rückt, dennoch solange Herz und Verstand standhaft ist, den rechten Weg kannst finden. Hilft nicht Spot noch Hohn, was du hoffend mit dir trägst, nur an dem ihm bestimmten Ort, wird bedenkenlos für alle Zeit verbleiben. Dein Ziel, die Lösung wähnst gefunden, oder wie zuvor eine gemeine neue List, halt ein, entsinne dich erst nochmals des Weges, des Erlebten. Abends nach dem Essen sitzen die drei vor ihren Zelten, um gemeinsam zu beratschlagen, was sie mit dem magischen Schwert nun geschehen sollte. Unbestritten hatte sich die Geschichte der beiden Frauen überaus spannend angehört, trotzdem hat ihnen das Gespräch nicht wirklich weitergeholfen. Es zurück nach Umbrosia dem Schattenland bringen, dies haben ihnen die Sehrinnen offenbar mitteilen wollen. Wo sollte dieses sagenumwobene Land denn zu finden sein? Was mit Balmung der mystischen Waffe dort anstellen? Würden sie in Umbrosia jemand antreffen, dem sie das Schwert überreichen können? Nach einigem Überlegen fällt Ortrun ein, dass sie vor wenigen Tagen auf in den Stein geritzte Zeichen gestoßen ist. An diesem Nachmittag war sie zwischen den Felsen im Osten spazieren. Genauer gesagt war sie in einer der tiefen Schluchten unterwegs, die dort in das dahinterliegende Gebirge führen. Vielleicht würde dies eine erste Spur sein, welche ihnen den Weg in das Schattenland weisen könnte. Natürlich vorausgesetzt die Runen die Ortrun gefunden hat, wären wirklich die selben wie jene, die in dem Lied der Seherinnen erwähnt werden. 'Ob sie denn alleine auf ihren Spaziergängen gewesen sei', fragt das jüngere der Mädchen neugierig. In den letzten Tagen hatte sie ihre Schwester öfters den ganzen Nachmittag über vermisst. Selten kam es vor, dass Ferun nicht wusste, was die Schwester gerade anstellt. 'Dies würde sie gar nichts angehen', antwortet ihr Ortrun etwas schnippisch. 'Schließlich würde die jüngere Schwester ihr Bescheid ebenso wenig geben, wenn diese mit ihrem Lehrling durch die Wälder streifen gehe.' Einige ähnliche Diskussionen müssen überstanden werden, dann endlich entschließen sich die drei, zunächst einmal nach den Runen bei den Felsen zu schauen. Falls die Zeichen in der Schlucht die Freunde zu dem gesuchten Tor führen würde, wollen sich Ferun und Teutebrand sofort auf dem Weg machen. Ihr Hab und Gut würden sie wohl, in der Zeit in der sie abwesend sind, im Camp zurücklassen können. Darüber hinaus gibt es nicht viel, woran sie groß denken müssten. Es ist gerade Sommer, die Tage sind lang und die Nächte kurz, außerdem ist es draußen warm. Sicher eine kleinere Menge Proviant würden sie mitnehmen müssen, vielleicht für drei bis vier Tage, mehr wäre gewiss nicht nötig. Für die zwei stellt sich die Frage gar nicht, ob sie das Schattenland überhaupt suchen gehen wollen. Lediglich Ortrun kann schwer überredet werden mitzukommen. Dazu müsste sie das Camp an der Ibensul mit den anderen Jugendlichen verlassen, selbst wenn dies nur für ein paar Tage wäre. Ferun ist überzeugt davon, dies würde einzig und alleine daran liegen, dass der Junge von der Ibensul nicht bei ihrem Abenteuer dabei wäre. Die Gefährten würden alleine aufbrechen, schließlich hatten sie das Schwert gefunden, waren sie vom Schicksal ausgewählt worden, die Waffe zurückzubringen. Neben den dreien würden außerdem der Esel und selbstredend die Elster auf die Suche mitgehen, die selbe Gruppe eben wie auf ihrer Wanderung in das Sommercamp. Schlussendlich können die beiden die große Schwester überzeugen sie zu begleiten. Dafür mussten sie Ortrun versprechen, dass sie Balmung tragen würde, weil sie die Älteste von ihnen sei. Selbst die letzte Bedenken der Schwester, können die zwei beseitigen. 'Das Schwert sei viel zu schwer und unhandlich, um es für längere Zeit mit sich zu tragen.' Gewiss die Waffe ist größer als ein Dolch oder Messer, wenngleich der Unterschied gar nicht so besonders groß ausfällt. Gleich morgen würden sie aus einer Ziegenhaut eine Schwertscheide fertigen, welche Ortrun an ihrem Gürtel befestigen würde. Sie könnte die Waffe in die Lederhülle hineinstecken und würde auf diese Weise beim Laufen beide Hände frei haben. Bevor die Gefährten endgültig zu ihrem Abenteuer aufbrechen, möchte Teutebrand unbedingt nochmals ein Gespräch mit Radewald führen. Am Vorabend ihres geplanten Aufbruchs in das Schattenland ergibt sich letztlich eine Gelegenheit hierzu. 'Er habe ihm alles über das Zaubern beigebracht, was er selbst darüber wisse', erklärt der Zeremonienmeister dem Jungen. 'Mit den beiden Frauen aus Kerusci habe er geredet, genau wie er selbst würden sie große Hoffnung in ihre Reise nach Umbrosia legen.' Entgegen den aufmunternden Äußerungen des alten Meisters spricht sein Gesicht eine ganz andere Sprache. Ziemliche Resignation zeigt sich hier und selbst die Falten auf seiner Stirn sind tiefer geworden, meint der Müllergeselle zu erkennen. 'Die Angelegenheiten des Alten Volkes wären im Moment schwierig und stünden nicht allzu gut, dies müsse Teutebrand wissen', setzt Radewald seine Ansprache nach einem längeren Moment des Schweigens fort. 'In Ubil am großen Strom stünden sich das Heer der Treber und jenes des eigenen Königs aus Segmunda gegenüber. Nicht nur die Kämpfe zwischen den beiden Kriegsgegner, schon allein die Versorgung der Truppen, würden weite Teile des Land beiderseits des mächtigen Flusses verwüsten. Sicher falls die alten, überbrachten Mythen ihres Volkes wahr wären, würde der Versuch der Gefährten nach Umbrosia zu gelangen, gewiss weiterhelfen können. Im Gegensatz zu den Seherinnen sei er mit diesen Dingen zu wenig vertraut, um den Gefährten einen hilfreichen Ratschlag auf die Reise mitgeben zu können.' 'Gleichwohl hege er keinerlei Zweifel an den Fähigkeiten der beiden alten Frauen ebenso wenig an der Redlichkeit der Bemühungen der drei Freunde. Auf vieles in diesen Tagen habe er nur geringen Einfluss, da es weit außerhalb seiner eigenen Möglichkeiten liege. Von daher würde er ihnen viel Erfolg wünschen, mit der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen in glücklicheren Tagen.' Die letzten Worte des alten Meisters verstörten den Jungen ein wenig. In all ihren Gesprächen zuvor hatte er Radewald noch nie so erlebt, nichtsdestotrotz steht ihr Plan fest und ein Zurück sollte es nicht geben. Die meisten im Camp liegen noch in ihren Zelten, als die drei früh am nächsten Morgen zu ihrer Suche nach dem Schattenland aufbrechen. Nachdem sie Ortrun zur Schlucht zwischen den Steinmassiven geführt hat, erreichen sie kurz darauf den Ort, an dem die große Schwester die in den Fels gehauenen Runen gesehen hat. Freilich sind die Zeichen kaum zu erkennen. Aus dem Gestein darüber läuft eine rötliche Flüssigkeit herunter und diese verdeckt die Schrift nahezu vollständig. 'Die Schlieren auf den Runen seien das vorherige Mal nicht dagewesen, sonst könnte sie sich mit Sicherheit daran erinnern', wirft Ferun beim Anblick der Inschrift ein. 'Nun würde es geradewegs so aussehen, als wären die Schriftzeichen völlig mit Blut verschmiert.' Der Müllergeselle hingegen erinnert sich, dass er ähnliche Verfärbungen bereits bei den Öfen von Fentovia am Erzgestein bemerkt hatte. Geschwind klettert Teutebrand auf einen Gesteinsbrocken vor der Felswand, um die eingehauenen Linien im Stein besser untersuchen zu können. Wie er nun mit einem Finger an den verschmierten Zeichen kratzt, stellt er fest, dass die Verfärbungen frisch sein müssen. Die Schlieren sind noch ziemlich feucht, zudem bleibt ein ganz feiner, roter Sand unter seinem Fingernagel zurück. Demnach ist es also gar kein Blut, was da an der Felswand herunterläuft. Trotzdem selbst wenn die rot gefärbte Flüssigkeit die Schriftzeichen nicht überdecken würde, auf Grund ihrer mangelnden Kenntnis der Runen, könnten sie diese sowieso nicht lesen. Von daher wünscht sich Teutebrand, er könnte die Zeichen seinem Vater zeigen, gewiss würde er wissen, was die Schriftzeichen bedeuten sollen. Nun Rangubald war nicht hier, daher würde er ihnen in Moment nicht weiterhelfen können, ebenso wenig wie der Zeremonienmeister und die Seherinnen es in dieser Angelegenheit scheinbar konnten. Immerhin ermuntern die gefundenen Runen die Abenteurer ein bisschen, denn an dem Lied, welches ihnen der Seherinnen vorgetragen hatten, schien offenbar etwas Wahres dran zu sein. Die Freunde fühlen sich deshalb in ihrer Absicht gestärkt, den Weg in das Schattenland zu suchen, selbst wenn sie dabei ganz auf sich alleine gestellt sein werden. In der Schlucht scheint es offenbar nicht viel mehr zu geben, als Unmengen von Steinen sowie steile Felswände an beiden Seiten mit undurchdringlichen Hecken und wuchernden Sträuchern davor. Hinter dem dichten Gebüsch, nicht weit von den Runen entfernt, entdecken die Freunde beim genaueren Hinsehen indes ein schweres massives Tor. Die große Schwester zieht umgehend das Schwert, versucht damit die Hecken zu entfernen. Jedoch egal, wie oft und wie heftig sie mit der scharfen Waffe auf das stachelige Gebüsch einschlägt, es passiert absolut gar nichts. 'Was soll das nur für ein Schwert sein, mit welchem man nicht einmal einer Brombeerhecke zu Leibe rücken kann', ruft sie wütend aus. Sogleich tritt Teutebrand zu ihr und legt Ortrun umsichtig die Hand auf den Arm, in welchem das Mädchen die Waffe hält. 'Manche Dinge welche schwer erscheinen würden, seien eigentlich in Wirklichkeit ganz leicht. Man müsste eben nur wissen, welches der rechte Weg sei', versucht er die große Schwester zu beruhigen. Darauf holt Müllergeselle seinen kleinen schwarzen Zauberstab heraus: "Hokuspokus verschwindibus!" Plötzlich ist das Gebüsch tatsächlich verschwunden. Sogar Teutebrand ist ein wenig überrascht davon, wie einfach ihm dies gelungen ist. Was seine Zauberkünste betrifft, vor allem was er mit ihnen alles anstellen kann, darüber ist sich der Müllergeselle noch immer nicht ganz sicher. Seine eigenen Zweifel hierüber will sich der Junge vor den beiden Schwestern natürlich nicht anmerken lassen. Gewiss er hatte viel geübt, seit ihm Radewald damals in Murrtal den Zauberstab zugesteckt hat. Nahezu jede Gelegenheit hatte er dafür genutzt, vor allem dann wenn er allein mit der Elster durch die Wälder gewandert ist. Die Abenteurer wollen die Tür mit vereinten Kräften öffnen, trotz größter Anstrengungen will dies allerdings keinem von ihnen gelingen. Selbst bei Teutebrand, der es abermals mit seinen Zauberkünsten versucht, bleibt die vermaledeite Tür fest verschlossen. Völlig überraschend meldet sich mit einem Male der Esel lautstark zu Wort. Die Gefährten wissen nicht genau, was den Grauen zu diesem Verhalten veranlasst, gehen aber vorsichtshalber einen Schritt zu Seite. Das Tier dreht sich hierauf um und mit einem kräftigen Tritt seiner beiden Hinterläufe schlägt der Esel die Tür ein. Quietschend öffnet sich nun der zerbrochene, hölzerne Verschlag und die Gefährten können den finsteren Eingang in eine unbekannte Höhle erkennen.